Liebe Geschwister,
unser Herr, er kennt uns "durch und durch" - bis in den letzten Winkel unseres
Herzens. Kein anderer Mensch kennt uns so wie er. Ja nicht einmal wir selbst
kennen uns wirklich. Doch er, der Herr "sieht das Herz an" und will mit uns
Gemeinschaft haben - die tiefste Gemeinschaft, die es überhaupt gibt.
"Der hat wirklich Menschenkenntnis." So sagt man - manchmal bewundernd
- von einem, der Bescheid weiß über seine Mitmenschen. Der weiß,
wie er sie einzuschätzen hat. Und wie er mit ihnen umgehen muß.
"Menschenkenntnis" - die ist gefragt wie nie zuvor. Und das ausgerechnet -
pikanterweise? - in einer Zeit, in der es immer kälter und unmenschlicher
zugeht. Oder - ob das vielleicht sogar damit zusammenhängt?
Wer sich etwa heutzutage auf eine höhere Stellung bewerben will - aber
nicht nur auf eine "höhere" - der wird oft genug bei der Bewerbung vom
Betriebspsychologen "durchleuchtet". Manchmal werden die Kandidaten sogar
auf spezielle Tagungen eingeladen, wo sie von Experten genau beobachtet werden.
In einer Zeit, wo es immer härter zugeht - da kann sich kein Betrieb
mehr leisten, einen einzustellen. Einen, der sich hinterher als echte "Pfeife"
herausstellt. Nicht nur Zeit ist Geld, sondern auch das "menschliche Kapital",
wie man es heute nennt. Menschenkenntnis - die zahlt sich im wahrsten Sinne
des Wortes aus. Ach, wie wird man nur zu einem echten "Menschenkenner"...?
Auch bei unserer Jahreslosung geht es um eine "Bewerbung": gesucht wird der
Kandidat für die höchste Stellung im Staate Israel - ein neuer
König soll gefunden werden. Wie soll man dafür nur einen qualifizierten
Menschen finden? Samuel, der hier die Söhne Isais nacheinander anschaut.
Er ist nicht irgendwer. Er ist alt geworden, in einem verantwortungsvollen
Leben. Als geistlicher Führer seines Volkes - als "Richter" - wie man
diese Leute damals nannte. Wenn jemand Menschenkenntnis besitzt, dann wohl
er, der im besten Sinne die "Weisheit des Alters" hat. Und ich weiß
nicht, ob er wirklich nur auf das "Aussehen und seinen hohen Wuchs" bei Eliab
geschaut hat, auch wenn Gott ihn ausdrücklich hier davor warnt. Wenn
man Gottes Erklärung an Samuel liest, dann liegt das eigentliche Problem
sehr viel tiefer, ist grundsätzlicher. Gott sagt: Der Mensch hat - "Menschenkenntnis"
hin oder her - eine Art "angeborene Wahrnehmungsschwäche". "Der Mensch
sieht, was vor Augen ist." Das, was - scheinbar - klar ist. Nur der Herr,
der "sieht das Herz an."
Wer sich etwas mit dem Alten Testament beschäftigt, der wird bald sehen:
Was dort mit dem menschlichen "Herzen" gemeint ist. Das ist weder das Organ,
das unser Blut durch den Körper pumpt. Noch sind es speziell unsere
Gefühle. Wenn wir sagen: Das geht mir zu Herzen. Oder wenn der Schlagersänger
vom "Herz-Schmerz" singt. Nein - eigentlich müßte man - fast -
überall, wo in der Bibel "Herz" steht. Müßte man dieses Wort
durchstreichen. Und stattdessen hinschreiben: "die Mitte der Person". Gewissermaßen
der Teil von uns, wo sich alles entscheidet. Alles, was mich bewegt und umtreibt.
Was ich für richtig und falsch halte. Wo ich ein entschiedenes Leben
mit Jesus führe - oder eines ohne ihn. Vielleicht könnte man statt
"Herz" auch "Gewissen" schreiben. Das würde es treffen - aber eben auch
nur teilweise.
Und nun sagt Gott diesem weisen alten Mann. Dem Samuel. Er sagt ihm - und
das gilt für uns nicht weniger! Gott sagt: diese Mitte der Person. Die
kannst du gar nicht richtig wahrnehmen. Du wirst immer bei Äußerlichkeiten
steckenbleiben. Das Herz zu erforschen. Zu sehen, was einen Menschen im Innersten
umtreibt. Das bleibt offensichtlich Gott vorbehalten. Da kommen wir als Menschen
"nicht heran".
Noch der hochgelehrte - und sicher nicht allzu christliche! - Philosoph Immanuel
Kant. Er konnte vor knapp 200 Jahren sagen: Es gibt im Menschen etwas. Tief
darinnen. Eine Art "Ich". Das können wir einfach nicht erforschen.
Da gibt es eine letzte Grenze, die wir nicht überschreiten können.
Dann kamen die Psychologen. Und nicht umsonst fühlten sich schon manche
etwa beim alten Sigmund Freud. Ja - genau der, der die Leute "auf die Couch"
gelegt hat! Nicht umsonst fühlen sich bei ihm so manche an eine technische
Beschreibung erinnert. Wenn er den Menschen nach Art einer Dampfmaschine
beschrieben hat - mit "Druckausgleich" zwischen "Ich", "Es", und "Überich".
Wie dem auch sei. Es hat sich jedenfalls in vielen Köpfen eine Denkweise
festgesetzt. Als ob man den Menschen und was ihn umtreibt. Als ob man ihn
"wissenschaftlich" beschreiben könnte. Als ob man die Mitte seiner Person
fassen könnte. Und allerlei "Experten" - mit und ohne Doktortitel. Sie
wollen uns weismachen: Wir können den Menschen endlich in Formeln berechnen.
Ihn einordnen. Ihn mit unserer wissenschaftlichen "Menschenkenntnis" im Griff
haben. Eine Art Test mit über 500 Fragen müßte man beantworten,
zu seinem Leben und zu anderem, so hörte ich kürzlich. Wenn man
in einem Krankenhaus hier in der Nähe in die psychosomatische Abteilung
gerät. Ob man so den Menschen "ausmessen" kann, wie einen elektrischen
Schaltkreis? Und: Ob das dem Betroffenen wirklich weiterhilft?
Hätte man doch nicht nur auf den alten Philosophen Kant gehört.
Sondern auch in unserem "christlichen Abendland" in die Bibel geschaut. "Es
ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen?"
(Jeremia 17,9) So lesen wir z.B. beim Propheten Jeremia. Und in der Tat: Offensichtlich
scheint die Bibel - nicht nur hier - klipp und klar davon auszugehen. Daß
das Herz. Die Mitte der menschlichen Person. Daß uns dieses Herz prinzipiell
verschlossen ist. Und daß es keiner erforschen kann - außer dem
Schöpfer des Menschen selbst. Selbst der Psychoanalytiker, der
"Seelenarzt". Der glaubt, er könne zu den "Tiefenschichten" der Persönlichkeit
vordringen. Er sieht letztlich nur das, was vor seinen - scheinbar
wissenschaftlich geschulten - Augen liegt. Es war wohl der jüdische
Philosoph Martin Buber, der einmal gesagt hat: "Wenn sich zwei Menschen begegnen,
dann begegnen sich zwei Abgründe." Keiner soll denken, er sei ein "Menschenkenner"
- und könnte in diesen Abgrund hineinschauen. Es wird ihm nicht besser
gehen, als dem weisen alten Samuel. Der sich gewaltig getäuscht hatte.
Vielleicht kann uns das davon abhalten. Zuviel über das "Innenleben"
unserer Mitmenschen zu spekulieren. Und uns unsere Vorstellungen zu machen.
Ob dieser oder jener ein "herzensguter Mensch" ist, bei dem man sich einfach
nicht täuschen kann. Und ein anderer es dagegen mit Sicherheit böse
meine - auch wenn er es gut verbirgt. Woher willst du das wissen? Du kannst
Erfahrungen sammeln mit einem Menschen. Und merken, ob man ihm vertrauen kann
- oder besser vorsichtig ist. Das ist möglich, und es ist auch wichtig.
Man kann sich guten Rat holen, wie man mit einem Menschen umgeht - denken
wir nur an das Buch der Sprüche, es ist voll von solchen Ratschlägen.
Wir können und sollen - und das vor allem anderen! Wir können darum
beten, daß Gott uns Weisheit schenkt, im Umgang miteinander.
Aber denkst du, du könntest deinem Mitmenschen deshalb ins Herz schauen?
Denkst du, du weißt, was ihn im Innersten umtreibt? Wir sind doch nicht
Gott! Wer denkt, er habe einen anderen Menschen "durchschaut" - der soll
sich vorsehen. Denn er mag sich gewaltig getäuscht haben. Wenn er dann
- wieder einmal auf das hereingefallen ist, "was vor Augen ist" - und deshalb
scheinbar so sonnenklar war. Vielleicht wäre das ein erster "guter Vorsatz"
für das Neue Jahr: Bescheiden und vorsichtig zu sein. An den Stellen,
wo ich denke, ich hätte "Menschenkenntnis", oder ich könnte sie
gewinnen.
Nun könnte natürlich ein cleverer Mensch kommen und sagen: Das
habe ich doch schon immer gewußt, daß man andere nicht beurteilen
kann, ihnen ins Herz schauen kann. Das sollen wir doch auch gar nicht, besonders
nicht als Christen. Wir sollen nicht andere Leute erforschen - wir sollen
uns selbst erforschen. Wer oder was ist dir näher als dein eigenes Herz?
Wohlan - prüfe dich, du fromme Seele, wie du im Glauben stehst! Mache
dir ein Bild über dich! Lasse darin nicht nach! Prüfe nicht nur
deinen Lebenswandel, nein - prüfe auch dein Gedankenleben! Das, was
die anderen Menschen an dir nicht sehen! Und je mehr du prüfst. Und
je mehr du dir dein Innenleben bewußt machst. Und es unter die Herrschaft
Jesu stellst. Desto mehr wirst du geistliche Fortschritte machen, wirst du
ein starker Christ werden. Vielleicht haben solche oder ähnliche Sätze
schon gehört. Ja - wäre das nicht ein guter Vorsatz für das
neue Jahr?
Ich möchte mit einer "Scherzfrage" antworten. Was ist das: Es ist nur
20 cm von meinen Augen entfernt - und ich kann es doch nicht sehen, auch
wenn ich die Augen weit aufreiße? Etwas Ungewöhnliches? "Esoterisches"?
Weiß es jemand? - (eine kurze Pause -vielleicht hat ja jemand eine
Idee) Es ist - mein Hinterkopf. Kaum etwas ist meinen Augen so nah, und
dennoch... Wer seinen Hinterkopf betrachten will, kann sich drehen und wenden,
wie er will. Er braucht einen Spiegel - oder jemand muß ihm beschreiben,
wie sein Hinterkopf aussieht.
Und damit wären wir direkt beim 139. Psalm. Wie betet David dort? "Erforsche
mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich's
meine." Erforsche du mich! Da erforscht sich einer nicht selbst, sondern
er macht ein Gebet daraus. Und so gleicht der, der sein Herz - in bester
und frommer Absicht! Der sein Herz selbst erforschen will. Er gleicht dem
Mann, der dauernd versucht, sich schnell genug umzudrehen - um vielleicht
doch noch einen Blick auf den Hinterkopf zu erhaschen. Der Hinterkopf ist
eben nicht "vor Augen", sondern hinter den Augen - so nah, und doch unseren
Blicken verborgen. Genau so wenig, wie wir unser Herz betrachten können...
Und wer einfach versucht, sich schnell genug umzudrehen - der bekommt allenfalls
Kopfsausen. Aber er ist nicht klüger als zuvor.
Hüten wir uns also vor dem "frommen Herzsausen". Eine "christliche Selbsterforschung"
ist ebenso schädlich wie sinnlos. Wir brauchen einen Spiegel, um unser
Herz zu erkennen - diesen "Hinterkopf unseres Innenlebens". Wir brauchen
das Wort Gottes. "Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und
schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es
scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken
und Sinne des Herzens." (Hebräer 4,12) Wir brauchen einen, der uns sagt,
wie es in unserem Herzen aussieht. Herr, erforsche du mich. Denn du siehst
mehr als das, was vor Augen ist. Du siehst das Herz an - auch mein Herz.
Vielleicht wäre das ein zweiter guter Vorsatz für das neue Jahr.
Öfter zu beten: Herr, erforsche du mich.
Was mache ich nun mit dieser Erkenntnis? Daß der Herr das Herz ansieht?
Ich weiß wirklich nicht, ob das eine - auf den ersten Blick -
"schöne" Erkenntnis ist. Stellt euch vor, ein gelehrter Mensch hätte
einen wundersamen neuen Fernsehapparat erfunden. Man bittet dich herein,
plaziert dich auf einem Stuhl und setzt dir einen Helm auf. Und auf einmal
kann man auf dem Fernsehschirm alles erkennen, was in deinem Herzen so vorgeht.
Interessant, interessant, was dort alles zu sehen ist! Bis auf einmal - nein!
Das darf doch nicht wahr sein! Das kann man also auch darauf sehen? Bevor
du vor Scham in den Boden versinkst, reißt du dir jäh den Helm
vom Kopf, das Fernsehbild versinkt im Schnee, und das Experiment ist beendet.
Wenn ich mir vorstelle, daß Gott alles in meinem Herzen sieht - wirklich
alles! Auch die Rumpelkammer. Den Abfalleimer. Ja, sogar den "Giftschrank",
und die "Leiche im Keller"! Und das jederzeit, ohne Hilfsmittel, ohne Nachfrage,
aber dafür gründlichst - sogar in den Ecken, wo ich selbst noch
nie hineingeschaut habe.
Ich muß gestehen: Ich kann diesen Gedanken nur ertragen, wenn ich mir
gleichzeitig klarmache, wer da mein Herz ansieht. Es ist kein kühler
Forscher, der alles regungslos betrachtet. Auch nicht der böse Nachbar,
der - höhnisch grinsend - mir endlich einmal "eins auswischen" kann.
Weil er mich an einem schwachen Punkt erwischt hat.
Nein. Der da mein Herz anschaut - das ist der Herr, der genau für dieses
Herz geblutet hat. Bis zum Tode am Kreuz. Er wußte, für welche
Art Herzen er diesen Weg ging. Er hatte sie erforscht, die Herzen. Er wußte
um die Herzen, die noch geboren würden. Und er hat gesagt: ja, genau
die. Die will ich erlösen. Mit allem Unrat und Leichengeruch, der in
diesen Herzen ist. Seine Erlösung - die geht wirklich tiefer. Noch tiefer
sogar, als die "Tiefenschichten", die die "Tiefen"-Psychologen in uns entdecken
wollen. Deshalb kann Johannes in seinem ersten Brief schreiben (1. Johannes
3,19+20): Wir "können unser Herz vor ihm damit zum Schweigen bringen,
daß, wenn uns unser Herz verdammt, Gott größer ist als unser
Herz und erkennt alle Dinge."
Ja, er ist immer noch größer. Seine Erlösung ist immer noch
größer - als die Abgründe in uns. Das dürfen wir ihm
glauben. Und wir dürfen voller Zuversicht zu ihm beten wie David im
Psalm (19,13): "Wer kann merken, wie oft er fehlet? Verzeihe mir die verborgenen
Sünden!"
Wenn Gott unser Herz ansieht. Dann ist das ein durchdringender Blick - wohl
wahr! Aber eben vor allem ein Blick, der aus der Liebe geboren ist. Aus der
Liebe des Erlösers. Wir wollen uns ihm anvertrauen, auch im neuen Jahr.
Dem besten "Menschenkenner", den es gibt. Wir wollen uns ihm anvertrauen.
Mit unserem ganzen Herzen. "Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr
aber sieht das Herz an." Amen.