"Richtet nicht..."
Predigt über Lukas 6,36-42
Lukas 6 (Jesus sagt :) 36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig
ist. 37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt
nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. 38
Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes
und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben;
denn eben mit dem Maß, mit dem ihr meßt, wird man euch wieder
essen. 39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder
einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube
fallen? 40 Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen
ist, so ist er wie sein Meister. 41 Was siehst du aber den Splitter in
deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?
42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den
Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken
in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und
sieh dann zu, daß du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!
Liebe Geschwister,
das Richten anderer Menschen - das ist uns als Christen aus der Hand
genommen. Das ist eine Aufgabe - mit der wir wahrlich nichts mehr zu tun
haben. Und indem wir das verstehen. Indem wir darin leben. Wird sich bei
uns genau das zeigen, was die Bibel "Barmherzigkeit" nennt.
1. Jesus, der verurteilte Richter
Wenn mir ein irgendein Mensch sagt: "Man sollte keine anderen Menschen
zu schnell verurteilen." Dann werde ich entweder bedächtig und zustimmend
mit dem Kopf nicken, und mir sagen: eigentlich hat er ja recht - wenn das
nur immer so einfach wäre... Oder ich werde ärgerlich sagen:
was mischt der sich eigentlich ein - vielleicht hat der mich ja gerade
damit belehrt, in einer Sache, wo ich mich von dieser Person schon gar
nicht belehren lassen wollte.
Wenn wir diese Sätze Jesu so ansehen wie allgemeine menschliche
Weisheiten: "Man sollte niemanden zu schnell verurteilen." Dann haben wir
das meiste davon nicht verstanden. Von dem, wie Jesus es hier meint. Also
fragen wir genauer: Warum kann Jesus solche Sätze eigentlich
sagen? Was steht dahinter?
Wenn wir den Dienst Jesus betrachten, wie er uns in den Evangelien
geschildert wird. Dann stellen wir fest: Das hier ist kein Einzelfall.
Neben vielen einladenden und tröstenden Worten. Spricht Jesus oft
- auch in scharfer Form - menschliche Fehler, Schwächen und Sünden
an. Und man hat ihm das oft sehr übel genommen. Aber warum tut er
das?
Im Glaubensbekenntnis sprechen wir: Er wird kommen, zu richten die
Lebenden und die Toten. In der Tat. Schon durch seinen irdischen Dienst
hat Jesus klar gemacht. Ihm, dem Herrn über Himmel und Erde. Ihm steht
diese Aufgabe tatsächlich zu. Den Menschen zu richten. Er darf das.
Nicht, weil Jesus eine so hohe und vorbildliche Moral hat. Sondern weil
er Gott ist. Und das, ein erster Gedanke zur Anwendung: Das wird mich vorsichtig
machen. Ich bin nicht Gott, ich bin ein Mensch. Wenn ich richte - begebe
ich mich auf das "Hoheitsgebiet" Gottes. Und da gehöre ich nicht hin.
Wir müssen aber noch über diesen Text hinausschauen. Mit
diesen und ähnlichen Worten. War der Dienst Jesu ja noch nicht zu
Ende. Und als er ihn vollendete. Und am Kreuz starb. Da hatte er nicht
nur Schreckliches zu erleiden. Sondern da hielt Gott Gericht. Und Paulus
konnte später darüber schreiben: "...das tat Gott: er sandte
seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde
willen und verdammte die Sünde im Fleisch..." (Römer 8,3) Dort,
vor 2000 Jahren. Auf dem Hügel von Golgatha. Dort hielt Gott Gericht
über meine Sünde. Über die Sünde meiner Freunde. Und
über die Sünde meiner Feinde. Und "verurteilte die Sünde
im Fleisch". Er richtete sie, an diesem einen Menschen Jesus Christus.
Wenn ich also einen anderen Menschen richte. Dann begebe ich mich nicht
nur auf Gottes Hoheitsgebiet. Sondern dann komme ich 2000 Jahre zu spät.
Wer da noch richten will, der ist wie ein übereifriger Polizist. Der
hört von einem Tumult in einer anderen Stadt. Und er fährt los,
ohne jeden Auftrag seiner Zentrale. Mit Blaulicht. Und als er ankommt,
will er dort alles "richten" und für Ordnung sorgen. Aber - es ist
kein Tumult mehr da. Seine Vorgesetzten haben längst alles Nötige
veranlaßt. Und sein übereifriger Einsatz. Ohne Auftrag. Er war
- einfach überflüssig. Denken wir daran, wenn wir wieder einmal
- wie so viele Menschen - versucht sind, und richten wollen. Sag dir: Du
bist 2000 Jahre zu spät. Gott hat dir das schon lange aus der Hand
genommen, was du gerade tun willst. Er hat die Sünde schon längst
gerichtet.
Wer mitgedacht hat, mag nun vielleicht einwenden: Du sagst, Jesus sei
unser einziger und rechtmäßiger Richter. Aber hat nicht gerade
sein Ende am Kreuz etwas ganz Anderes gezeigt? Als er seine Feinde nicht
verurteilte - sondern für seine Feinde betete? Hier liegt in der Tat
ein großes Geheimnis verborgen. Unser Vater im Himmel ist barmherzig.
So fängt Jesus hier seine Rede hier an. Und genauso zeigte es sich
dann: Nachdem sich viele gegen Jesus verschworen hatte. Nachdem man ihn
in einem höchst ungerechten Prozeß. Durch falsche Zeugen. Und
"abgesegnet" durch den Feigling Pontius Pilatus. Nachdem man ihn so ungerecht
"gerichtet" hatte. Wurde er auch noch bestraft. Bestraft für eine
"Untat", die er nie begangen hatte. Der Prophet Jesaja drückte das
so aus: "Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten,
und durch seine Wunden sind wir geheilt. " (Jesaja 53,5)
Jesus, der rechtmäßige Richter der Welt. Läßt
sich verurteilen und nimmt das Gericht auf sich. Wäre es "gerecht"
gewesen - dann hätte ich dort hängen müssen, am Kreuz. Nicht
er. Das ist das Geheimnis von Gottes Barmherzigkeit. Daß er mir nicht
nur das Richten aus der Hand genommen hat. Sondern daß er das Urteil
auf sich selbst nimmt. Und Jesus, der verurteilte Richter. Wird mein barmherziger
Herr und Heiland.
Deshalb ein dritter Gedanke: Eigentlich, mit diesem Wissen im Hintergrund.
Wird da nicht vieles, über das wir uns ärgern an unserem Mitmenschen.
Was wir so kritisieren und benörgeln. Wo wir ihn "zurechtbiegen" wollen.
Wirkt da nicht vieles davon entsetzlich kleinkariert. Unpassend. Und "einfach
daneben"? Wenn ich die großzügige Barmherzigkeit des verurteilten
Richters? Meines Herrn? Daneben stelle, und einfach mein Herz davon erwärmen
lasse?
2. Mißverständnisse
In der Tat sind damit noch nicht alle Fragen beantwortet, und der Text
ist auch noch längst nicht ausgeschöpft. Leider hat man dieses
"Verbot zu Richten" auch in allerlei Weise verbogen und falsch verstanden.
Deshalb zuerst: Was wir es wohl nicht heißen?
Das Erste ist wohl noch am einfachsten einzusehen: Es soll sicher nicht
heißen, daß es in einem wahrhaft christlich geprägten
Staat (wenn es so etwas überhaupt gäbe) keine Gerichte und keine
Richter mehr gäbe. So sehr man sich manchmal aufregen mag, über
die Handhabung von Recht und Gesetz in unseren Landen. Die Erfahrung zeigt:
Wo das in einem Staat ganz ausfällt, und keine Justiz mehr arbeitet.
Da gilt gewöhnlich ein anderes Gesetz: das "Gesetz des Dschungels".
Und Recht hat dann der, der sich am rücksichtslosesten durchsetzt.
Nein, Jesus hat nirgends das staatliche Richten außer Kraft gesetzt.
Und als man ihn dafür - bei einer Erbschaftsstreitigkeit. Dafür
in Anspruch nehmen wollte. Da sagte er kurz, aber deutlich: "Mensch, wer
hat mich zum Richter oder Erbschlichter über euch gesetzt?" (Lukas
12,14)
Das zweite Mißverständnis geht schon etwas schwerer ein.
Wer sich gern bildet. Wer sich gern bildet, hat vielleicht schon vom "Freiheitsbegriff
der Neuzeit" gehört, den die Philosophen vor ungefähr 300 Jahren
erfunden haben. "Freiheit" - ein großes Wort. Andere drücken
es etwas derber aus: "In mein Leben lasse ich mir von niemanden reinschwätzen."
Beides bedeutet im Grunde das Gleiche. Und es ist etwas bedrückend,
daß auch die christliche Gemeinde manchmal diesen Grundsatz verinnerlicht
hat: Jesus hat gesagt, man solle nicht richten. Also wollen wir uns als
Geschwister nicht gegenseitig in unser Leben "reinschwätzen", sondern
jeder soll selbst seine Freiheit haben. Egal, ob er Gottes Gebote übertritt.
Und in sein Verderben rennt. Oder nicht. Wir wollen ja nicht "richten".
Der erste, der auch - angeblich? - soviel Freiheit gewähren wollte.
Das war vielleicht - Kain. Der hat gesagt: Soll ich meines Bruders Hüter
sein?
Nein, das kann mit dem "Nicht-Richten" wohl kaum gemeint sein.
Jesus und seine Apostel haben uns genug klar gemacht, daß wir uns
umeinander kümmern sollen. Und wenn einer unbekümmert ein Gebot
Gottes nach dem anderen "überfährt", wie andere rote Ampeln überfahren.
Dann kann ich nicht einfach danebenstehen. Dann muß ich auch einmal
"reinschwätzen", selbst wenn das unangenehm für alle Beteiligten
ist.
3. Ins Herz kann keiner sehen - außer Gott allein
Was aber ist dann damit gemeint: "Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht
gerichtet" ? Einige Dinge haben wir ja schon oben betrachtet - kehren wir
noch einmal dazu zurück. Zum einen soll ich mich nicht in Gottes Richteramt
einmischen. Ja, wir sollen uns umeinander kümmern. Aber zu beurteilen.
Wer nun ein Christ ist. Wer nun gerettet ist, und wer nicht. Das zu beurteilen:
das ist mir damit aus der Hand genommen. Und bei allem - auch notwendigen
- Nachdenken über meinen Nächsten. Werde ich immer nur zu vorletzten
"Urteilen" kommen. Das letzte Urteil steht in der Hand des Herrn.
Sicher. Wenn mir einer offen sagt: ich bin kein Christ, und ich will
das auch nicht sein. Oder er sagt: Ein einen höheren Gott im Allgemeinen
glaube ich schon. Aber daß Jesus mein verurteilter, gekreuzigter
Richter sein soll. Das finde ich eine unmögliche Vorstellung. Wenn
mir das einer sagt, habe ich seine Worte ernst zu nehmen - schließlich
hat er damit sein persönliches "Glaubens"- Bekenntnis abgelegt. Und
dieses Bekenntnis nimmt auch Jesus ernst.
Aber meistens sind es ja nicht so eindeutige Dinge. Der Liederdichter
Manfred Siebald (bekannt durch Lieder wie "Ins Wasser fällt ein Stein"
u.a.) hat über den Himmel einmal gesungen: Das wird ein Staunen sein,
ein Köpfeverdrehen..... - er meinte: wir werden staunen darüber,
wer alles dabei ist, im Himmel - und wer nicht... Wie gut, daß unsere
Meinungen nur vorletzte "Urteile" sein können - das Urteil über
die Sünde des Menschen hat unser Herr schon gesprochen, auf Golgatha.
Und das letzte Urteil über jedes einzelne Menschenleben - das wird
er auch sprechen, er allein.
4. "Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es auch heraus"
Kehren wir auch noch einmal zurück zu Gottes großzügiger
Barmherzigkeit. Zur Barmherzigkeit des verurteilten Richters. Ja, da kann
nicht allzu kleinlich mit meinem Nächsten sein, wenn ich sehe wie
großzügig und gnädig Jesus zu mir war. Aber auch hier gibt
es noch weitere Gründe, für diese Großzügigkeit.
Nun, abgesehen von der ernüchternden Erfahrung. Daß ich
beim Andern meistens die Schwächen am besten wahrnehme. Die ich auch
meine größten Schwächen sind (das ist das Gleichnis mit
dem Balken und dem Splitter). Abgesehen davon, so denke ich. Beschreibt
Jesus hier auch eine Erfahrung, die man tatsächlich so machen kann.
"Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt." Auf unserem Gemeindebesuch
in Heilbronn lernte ich einen schwäbischen Spruch (hier auf Hochdeutsch
wiedergegeben): "Nicht geschimpft ist genug gelobt." Das klingt flott.
Aber: Wer seine Mitmenschen vor allem bekrittelt und benörgelt - der
darf sich nicht wundern, wenn er von ihnen genauso behandelt wird. Oder
wenn sie sich zumindest zurückziehen. Ich glaube sogar, daß
Gott manchmal die ganz großen Krittler und Nörgler diese Erfahrung
absichtlich machen läßt - weil sie es anders nicht lernen wollen.
"Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt." Habt ein weites Herz -
und man wird ein weites Herz für euch haben.
"Gebt, so wird euch gegeben." Das Gegenteil von Richten, die "angewandte
Barmherzigkeit". Das ist auch eine gewisse Freigiebigkeit. Freigiebigkeit
an Zeit, Geld, Zuwendung, Hilfe. "Ein volles, gedrücktes, gerütteltes
und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben;
denn eben mit dem Maß, mit dem ihr meßt, wird man euch wieder
messen." Ja, wir brauchen uns nicht von jedermann ausnutzen zu lassen,
das ist schon wahr. Aber wir brauchen uns auch nicht zu viele Gedanken
darüber zu machen. Das ist es, was Jesus meint, einige Verse vorher:
"Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere
es nicht zurück." (Lukas 6:30)
Und, sagt selbst: Ein Mensch, der zu mir nicht knausrig ist - dem begegne
ich doch schon ganz anders, eben entspannter und auch selbst großzügiger.
"Gebt, so wird euch gegeben." Ach, wenn ich nur nicht immer soviel Angst
hätte. Ich könnte zu kurz kommen und ausgenutzt werden. Ich muß
nicht immer beurteilen, nicht immer "richten", warum mein Nächster
mich bittet, und warum ich gebe. Und wenn ich dann noch bedenke, wie großzügig
mein Herr zu mir war, der verurteilte Richter. Und es jeden Tag
ist...
Liebe Geschwister. Ich wünsche uns. Daß unser Herr uns immer
mehr das Richten aus der Hand nimmt. Und uns das Herz erwärmt, zur
Barmherzigkeit. Denn er war zuerst barmherzig zu uns. Amen.
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