Der lange Weg aus der Not - Erfahrungen mit dem Gebet
Predigt über Psalm 77,1-16
1 EIN PSALM ASAFS, VORZUSINGEN,
FÜR JEDUTUN. 2 Ich rufe zu Gott und schreie um Hilfe, zu Gott rufe
ich, und er erhört mich. 3 In der Zeit meiner Not suche ich den
Herrn; meine Hand ist des Nachts ausgereckt und läßt nicht
ab; denn meine Seele will sich nicht trösten lassen. 4 Ich denke
an Gott - und bin betrübt; ich sinne nach - und mein Herz ist in
Ängsten. SELA.
5 Meine Augen hältst du, dass
sie wachen müssen; ich bin so voll Unruhe, dass ich nicht reden
kann. 6 Ich gedenke der alten Zeit, der vergangenen Jahre. 7 Ich denke
und sinne des Nachts und rede mit meinem Herzen, mein Geist muß
forschen. 8 Wird denn der Herr auf ewig verstoßen und keine Gnade
mehr erweisen? 9 Ist's denn ganz und gar aus mit seiner Güte, und
hat die Verheißung für immer ein Ende? 10 Hat Gott
vergessen, gnädig zu sein, oder sein Erbarmen im Zorn
verschlossen? SELA.
11 Ich sprach: Darunter leide ich,
dass die rechte Hand des Höchsten sich so ändern kann. 12
Darum denke ich an die Taten des HERRN, ja, ich denke an deine
früheren Wunder 13 und sinne über alle deine Werke und denke
deinen Taten nach. 14 Gott, dein Weg ist heilig. Wo ist ein so
mächtiger Gott, wie du, Gott, bist? 15 Du bist der Gott, der
Wunder tut, du hast deine Macht bewiesen unter den Völkern. 16 Du
hast dein Volk erlöst mit Macht, die Kinder Jakobs und Josefs.
Der Psalm wird in der Schriftlesung
(im Eingangsteil des Gottesdienstes) im Zusammenhang vorgelesen
(V1-16), dann vor den 5 Predigtabschnitten noch einmal der jeweilige
Ausschnitt.
Liebe Geschwister,
bis ich Trost im Gebet erfahre. Das ist manchmal ein langer, schwerer
Weg. Ein Weg voller innerer Nöte. Aber es ist ein lohnender Weg.
Es lohnt so zu tun, wie es im Kirchenlied heißt: "Von Gott will
ich nicht lassen, denn er lässt nicht von mir." (Evangelisches Gesangbuch 365,1)
Begleiten
wir Asaf - den Beter dieses Psalmes - auf seinem Weg. Schauen wir, wie
gut Gottes Wort unsere Kämpfe und Nöte kennt. Und wie einer
von Gott nicht lässt - mitten in der Not.
1 EIN PSALM ASAFS, VORZUSINGEN,
FÜR JEDUTUN. 2 Ich rufe zu Gott und schreie um Hilfe, zu
Gott rufe ich, und er erhört mich.
1. Meine Gebete gehen weiter als bis zur Zimmerdecke
"Er erhört mich"! In großen Nöten kommt einem der
Gedanke schnell: Ob ich in Wirklichkeit allein bin, wenn ich bete? Oder
hat Gott das Interesse an mir verloren? Hört er mir vielleicht gar
nicht zu? Dieser Abschnitt ist nur kurz - und doch ist er die
Voraussetzung für alles Folgende. Bei aller Not: Wenn da keiner
ist, der mich hört. Oder: Wenn da einer hört, aber nichts tut
- oder nichts tun kann. Dann könnte man sich diese Predigt
tatsächlich schenken.
Die Fragen und Nöte sind da: "Ich schreie um Hilfe." Aber der Herr
- er ist auch da. "Er erhört mich." Daran wollen wir festhalten.
Das ist der Grund, auf dem unsere Gebete bauen.
3 In der Zeit meiner Not suche ich
den Herrn; meine Hand ist des Nachts ausgereckt und läßt
nicht ab; denn meine Seele will sich nicht trösten lassen. 4
Ich denke an Gott - und bin betrübt; ich sinne nach - und mein
Herz ist in Ängsten. SELA.
2. Gebet - und doch kein Trost
"Meine Seele will sich nicht trösten lassen." Es gehört zu
den Erfahrungen von vielen Christen, dass man im Gebet nicht immer
gleich Trost erfährt. Ich habe immer ein ungutes Gefühl, wenn
dem Gebet eine Art "automatischer Trost" zugeschrieben wird. "Egal wie
es dir geht - du musst nur loben und preisen und danken. Du darfst dich
nicht herunterziehen lassen. Usw." Selbst von unserem Herrn Jesus
Christus wissen wir, wie er im Garten Gethsemane gebetet hat: "Meine
Seele ist betrübt bis an den Tod." (Matthäus 26:38) Wir sind doch
keine Holzklötze und auch keine "geistlichen Supermänner" -
sondern schwache, zerbrechliche Menschen! Und Jesus versteht uns darin
sehr gut - hat er es doch alles selbst durchgemacht.
Deshalb müssen wir wissen, dass diese Erfahrung - manchmal - zum
Gebet dazu gehört: Ich bete, und ich erfahre zunächst einmal
keinen Trost. Ich bete, und mir kommt dabei kein frohes, dankbares Wort
über die Lippen. Das liegt nicht daran, dass ich etwas falsch
mache oder nicht geistlich genug bin. Es gibt Situationen, wo ich den
Trost zuerst gar nicht in mich aufnehmen kann - einfach, weil die Not
so groß ist.
Was tun in so einer Lage? Ins Gebet fliehen - jetzt gerade! Nicht mit
einer gespielten Freude und einem aufgesetzten Lobpreis. Sondern -
hartnäckig! "Meine Hand ist des Nachts ausgereckt und
läßt nicht ab." Jetzt gerade! Mein Herr wird mich nicht im
Stich lassen.
5 Meine Augen hältst du, dass
sie wachen müssen; ich bin so voll Unruhe, dass ich nicht reden
kann. 6 Ich gedenke der alten Zeit, der vergangenen Jahre. 7 Ich denke
und sinne des Nachts und rede mit meinem Herzen, mein Geist muß
forschen.
3. Quälende Gedanken
Fast jeder hat so etwas schon einmal erlebt: Die Gedanken gehen mir
durch den Kopf. Ich kann nachts nicht schlafen. Warum hat alles so
kommen müssen? Musste das sein? Wie wird es jetzt weitergehen? Und
ich erfahre, was der Psalmbeter klagt: "Ich bin so voll Unruhe, dass
ich nicht reden kann." Statt zu beten führe ich quälende
Selbstgespräche: " Ich ... rede mit meinem Herzen, mein Geist
muß forschen." Und dann: Dann denke ich an früher, als es
noch besser ging: "Ich gedenke der alten Zeit, der vergangenen Jahre."
Vielleicht denke ich an einen Menschen, den ich verloren habe.
Vielleicht denke ich an die Zeit, als ich noch Arbeit finden konnte.
Vielleicht denke ich an die Zeit, als es mit meiner Gesundheit
besser ging. Und ich denke daran mit Wehmut, vielleicht auch mit
Bitterkeit. Und Gott lässt das alles noch zu: Du hältst meine
Augen, dass sie wachen müssen! Asaf, unser Psalmbeter, hat
für diese Erfahrungen kein "Rezept" und keine schnelle
"Lösung". Ich denke: Auch das gehört dazu - zu meinem
Menschsein. Manchmal muss ich einfach lange nachdenken, wenn mich etwas
sehr beschäftigt oder quält.
Es gab vor knapp 2000 Jahren im alten Rom Philosophen, die so genannten
"Stoiker". Vielleicht hat schon einmal jemand den Ausdruck "stoische
Ruhe" gehört - man will damit sagen, dass einen rein gar nichts
aus der Fassung bringen kann.... Diese Philosophen waren keine
Christen. Sie lehrten: Du musst dich völlig in der Gewalt haben.
Du musst anfangen, deine Gedanken zu kontrollieren. Du darfst nicht
einfach das denken, was dir so in den Sinn kommt. Manche Christen
denken das auch: Ich muss in jeder Sekunde auf meine Gedanken
aufpassen, das hilft gegen die vielen Anfechtungen und Nöte, mit
denen ich zu kämpfen habe. In der Bibel steht diese Aufforderung
nicht. Dafür findet sie sich in so manchen christlichen
Büchern und Predigten - fast so, als hätte man direkt von den
heidnischen Philosophen "abgeschaut". Nein, "Gedankenpolizei" - das
müssen wir nicht spielen, auch nicht in der Not.
Nur eines muß ich mir klarmachen: Hineinsteigern sollte ich mich
nicht, in das Grübeln. Es ist wichtig, vom Selbstgespräch
wieder zurückzufinden. Zurückzufinden zum Gespräch mit
mit dem Herrn. Wie dichtet Paul Gerhardt in einem Lied: "Mit
Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein, läßt
Gott sich gar nichts nehmen, es muß erbeten sein." (Evangelisches Gesangbuch 361,2)
8 Wird denn der Herr auf ewig
verstoßen und keine Gnade mehr erweisen? 9 Ist's denn ganz und
gar aus mit seiner Güte, und hat die Verheißung für
immer ein Ende? 10 Hat Gott vergessen, gnädig zu sein, oder sein
Erbarmen im Zorn verschlossen? SELA. 11 Ich sprach: Darunter leide ich,
dass die rechte Hand des Höchsten sich so ändern kann.
4. Der verborgene Gott
Wir kommen nun zur vielleicht schwersten Anfechtung im Gebet: Ich rede
mit Gott, und ich habe den Eindruck: Er hat sich völlig
geändert. Früher habe ich immer seine Gnade erfahren.
Früher hat er mir immer geholfen. Und jetzt? Will er nichts mehr
von mir wissen? "Hat Gott vergessen, gnädig zu sein?" Dann suche
ich Trost in Gottes Wort - und es kommt noch schlimmer: "Hat die
Verheißung für immer ein Ende?" Und ich habe das
Gefühl, die Bibel liegt wie ein verschlossenes Buch vor mir. Sie
sagt mir nichts mehr. Was ich lese: Es dringt nicht zu mir durch. Oder
sogar: Gottes Wort zieht mich anscheinend noch weiter herunter. Was ist
nur geschehen? "Darunter leide ich, dass die rechte Hand des
Höchsten sich so ändern kann." Sollt ich am besten Abstand
gewinnen? Abstand von Gott? Nicht mehr Beten, nicht mehr in der Bibel
lesen, keine Predigt mehr hören?
Es gehört zu den Geheimnissen von Gottes Größe und
Majestät - dass er sich vor mir verbergen kann. Wir können
das nicht erklären. Wir haben manchmal sehr darunter zu leiden.
Aber eines können wir wissen: Er hat seine Gnade nur verborgen -
aber er ist immer noch der Gleiche, der mich liebt. Es ist mir, als ob
er eine Maske auf hätte. Als ob er sich verkleidet hätte. Und
doch ist es so (Jesaja 54:8)
"Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir
verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht
der HERR, dein Erlöser." So lesen wir bei Jesaja.
Warum spreche ich über einen so schwierigen Gedanken? Damit wir
nicht aufgeben, auch nicht in der größten Not. Damit wir
nicht aufgeben, mit Gott zu reden. Damit wir nicht aufgeben, Gottes
Wort zu hören und zu lesen. Unser Herr wird sich nicht für
immer verbergen. Er wird uns wieder klar machen, wie sehr er uns liebt.
Und dass er uns nicht im Stich gelassen hat.
12 Darum denke ich an die Taten des
HERRN, ja, ich denke an deine früheren Wunder 13 und sinne
über alle deine Werke und denke deinen Taten nach. 14 Gott, dein
Weg ist heilig. Wo ist ein so mächtiger Gott, wie du, Gott, bist?
15 Du bist der Gott, der Wunder tut, du hast deine Macht bewiesen unter
den Völkern. 16 Du hast dein Volk erlöst mit Macht, die
Kinder Jakobs und Josefs. SELA.
5. Es hat sich "gelohnt"
"Du bist der Gott, der Wunder tut." Das war ein langer Kampf. Ein Kampf
im Gebet. Bis dieser Satz über die Lippen kommt. "Du bist der
Gott, der Wunder tut." Das ist kein oberflächlicher Lobpreis. Das
ist kein "Ich tue so, als ob ich in jeder Not ein fröhlicher
Christ bin". Sondern das ist hart erarbeitete Frucht. Das hat
vielleicht Wochen oder Monate gebraucht, bis ich soweit war. Das ging
durch viele Anfechtungen und dunkle Stunden. Aber jetzt weiß ich:
es hat sich "gelohnt", dass ich nicht aufgegeben habe. Es hat sich
gelohnt, dass ich im Gebet geblieben bin. Auch wenn es nicht immer
fröhliche, oder wohlformulierte Gebete waren. Es hat sich gelohnt,
dass ich meine Bibel nicht zugeschlagen und in der Ecke liegen gelassen
habe.
Auch weltliche Menschen wissen, dass es seine Zeit braucht, bis man
schwere Erfahrungen bewältigt hat. Manche Wissenschaftler
behaupten z.B., dass es nach dem Tod eines nahestehenden Menschen neun
Monate braucht, bis man alles verarbeitet hat. Bis man wieder seinen -
jetzt veränderten - Alltag leben kann. Sie nennen diesen inneren
Kampf "Trauerarbeit". Ich weiß nicht, ob man das so einfach
untersuchen und in einen festen Zeitraum einfassen kann. Aber eines
stimmt: Im menschlichen Leben kostet so Manches einen längeren
Kampf, bis man damit "durch" ist. Das ist durchaus ähnlich in
unserem geistlichen Leben. In unserem Leben mit Christus. Auch da geht
es immer wieder durch schwere Stunden und harte Kämpfe. Und ich
weiß nur eines dabei: Er lässt mich nicht los. Er ist immer
noch gnädig - selbst dann, wenn er sich scheinbar verborgen hat.
Aber dann. Dann ist es auf einmal so, als wenn mir ein Schleier von den
Augen gezogen wird. Und ich sehe alles wieder klar und deutlich. Jetzt
- endlich! - kann ich "Ja" zu Gottes Wegen sagen: "Gott, dein Weg ist
heilig." Habe ich vorher vielleicht "Befiehl du deine Wege" gesungen
und gebetet - aber meinem Herzen waren diese Worte noch fern. So kann
ich jetzt ein echtes "Ja, Vater" sagen. Habe ich die ganze Zeit nur
voller Bitterkeit an bessere Zeiten gedacht. Daran gedacht, was ich
verloren habe. So kann ich mich jetzt darüber freuen, was Gott
schon alles Gute in meinem Leben getan hat: "Darum denke ich an die
Taten des Herrn, ja ich denke an deine früheren Wunder."
War ich mir nicht mehr sicher, ob Gott noch mein liebender Vater ist.
So weiß ich jetzt voller Freude: Jesus hat mich schon längst
befreit. Befreit von allem, was ich meinem himmlischen Vater schuldig
geblieben bin. Befreit - selbst von der Macht des Todes. Ja, am
gekreuzigten Christus sehe ich, wie gnädig er zu mir ist: "Du hast
dein Volk erlöst mit Macht." Da, am Kreuz. Da hat sich Gott nicht
verborgen. Sondern da steht mir der Himmel offen. "Denn also hat Gott
die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die
an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben." (Johannes 3:16)
Liebe Geschwister. So möchte ich mit drei Wünschen
schließen. Der erste Wunsch: Wenn einer unter uns gerade in
großer Not ist. Dem wünsche ich ihm eines: Gib nicht auf.
Bleib´ im Gespräch mit unserem Herrn. Es kommen andere
Zeiten, und du wirst sehen: es ist nicht umsonst. "Von Gott will ich
nicht lassen, denn er läßt nicht von mir." Der zweite Wunsch
ist für uns Andere, denen es gerade gut geht. Denen wünsche
ich, dass sie diese guten Tage nicht vergessen. Und wenn
dann schwere Stunden kommen. Dann nehmen wir uns diesen
Psalm. Oder einen ähnlichen. Und denken daran: Wie schon Asaf nach
langem Kampf im Gebet wieder froh wurde über seinen Herrn.
Aber der dritte Wunsch - der ist der wichtigste. Nämlich: Denken
wir an den Leidensweg unseres Herrn. Denn dort - dort hat Jesus nicht
nur verstehen gelernt, wie es in der tiefsten Tiefe des menschlichen
Lebens aussieht. Dort hat er nicht nur gelernt, aus eigener Erfahrung
mit uns mitzuleiden. Sondern dort hat er alles das für uns
durchgemacht. Dort hat er uns erlöst, von der Sünde, vom
Teufel, und vom Tod. An diesem Leidensweg sehen wir, wie Gott es
wirklich mit uns meint. Wie er voller Liebe ist. Und wie er für
uns das Beste gibt, was er hat: Das Leben seines eigenen Sohnes.
"Ich rufe zu Gott und schreie um Hilfe, zu Gott rufe ich" - "und
er erhört mich." Amen.
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