Liebe Gemeinde,
Jesus ist gestorben am Kreuz für unsere Sünden. Diesen Satz
haben wir vermutlich schon oft gehört, auf die eine oder andere
Weise. So weit, so gut. Nur - was ist eigentlich Sünde? "Jetzt
haben wir mal wieder richtig gesündigt". So sagt man z.B, wenn man
mehr gegessen und getrunken hat, als der Gesundheit zuträglich
ist. Wenn wir über eine rote Ampel fahren, landen wir in der so
genannten Verkehrssünderkartei und bekommen Punkte. Und manche
nehmen Sünde auch humorvoll, und singen mit Willy Millowitsch:
"Wir sind alle kleine Sünderlein."
Was aber versteht die Bibel darunter? Und wie geht Gott damit um? Dass
der Mensch, ja die ganze Welt, von der Sünde geprägt sind,
findet sich in der Bibel an verschiedenen Stellen ausgedrückt.
Eines wird dabei klar: Wirklich begreifen kann man Sünde nur, wenn
man darüber in persönlicher Betroffenheit redet. Wenn man zu
Gott betet: Herr, sei mir Sünder gnädig. Wir wollen uns als
Predigttext deshalb ein Stück aus Psalm 51 vornehmen. David, der
bedeutendste König im alten Israel, hat dieses Gebet vor etwa 3000
Jahren verfasst.
1 EIN PSALM DAVIDS, VORZUSINGEN,
2 ALS DER PROPHET NATHAN ZU IHM KAM,
NACHDEM ER ZU BATSEBA EINGEGANGEN WAR.
3 Gott, sei mir gnädig nach
deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner großen
Barmherzigkeit.
4 Wasche mich rein von meiner
Missetat, und reinige mich von meiner Sünde;
5 denn ich erkenne meine Missetat,
und meine Sünde ist immer vor mir.
6 An dir allein habe ich
gesündigt und übel vor dir getan, auf dass du recht behaltest
in deinen Worten und rein dastehst, wenn du richtest.
7 Siehe, ich bin als Sünder
geboren, und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen.
8 Siehe, dir gefällt Wahrheit,
die im Verborgenen liegt, und im Geheimen tust du mir Weisheit kund.
9 Entsündige mich mit
Ysop, dass ich rein werde; wasche mich, dass ich schneeweiß werde.
10 Laß mich hören
Freude und Wonne, dass die Gebeine fröhlich werden, die du
zerschlagen hast.
11 Verbirg dein Antlitz vor
meinen Sünden, und tilge alle meine Missetat.
12 Schaffe in mir, Gott, ein
reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist.
13 Verwirf mich nicht von
deinem Angesicht, und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir.
14 Erfreue mich wieder mit
deiner Hilfe, und mit einem willigen Geist rüste mich aus.
Hinter diesem Gebet steht eine Geschichte, wie sie sich in einer
typischen Filmserie unserer Zeit abspielen könnte, aus der Welt
der Reichen und Schönen. Zuerst wird die attraktive Bathseba von
David schwanger, eine verheiratete Frau. Als das Kind auf die Welt
kommt, ist einfach auszurechnen, dass es nicht von Bathsebas eigenem
Mann sein kann. Denn der kämpfte im Krieg und war schon seit
Monaten nicht mehr zu Hause gewesen. Es droht, dass alles herauskommt,
und so plant König David einen gut getarnten Auftragsmord: Uria,
der Ehemann Bathsebas, soll an vorderster Front allein seinen Gegnern
überlassen werden. Er fällt im Kampf, Bathseba ist jetzt
Witwe und steht David als Frau zur Verfügung.
David war schon lange ein gläubiger Mensch gewesen. Wie konnte er
sich zu so etwas hinreißen lassen? Ein Jahr lang quält er
sich mit seiner Gewissenslast. Die Freude ist aus seinem Leben
gewichen, bis ins Körperliche hinein fühlt er seine Schuld:
Gott hat seine "Gebeine zerschlagen", so betet er im Psalm. Er hat ihm
keine Ruhe gelassen. Und jetzt muss David sagen: Meine Sünde ist
immer vor mir, sie geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ob ich solche
Erfahrungen auch kenne?
David wendet sich an den, der seine "Gebeine zerschlagen" hat: "Gott,
sei mir gnädig nach deiner Güte..." Er beginnt, indem er sein
Problem beim Namen nennt: Tilge meine Sünden. Es ist das
wichtigste Gebet, das ein Mensch beten kann: Herr, sei mir Sünder
gnädig. Und es beginnt damit, dass ich aufhöre, meine Schuld
zu erklären und zu rechtfertigen.
Ein Psychologe würde heute vielleicht - wenn David mit seinen
Untaten vor einem deutschen Gericht stünde - einige gute
Erklärungen finden. Davids hohe seelische Belastung, als
Staatschef eines Landes im Krieg. Frühkindliche Prägungen.
Vielleicht hat Bathseba ihn sogar gereizt, wer weiß?
Schließlich ist er auch nur ein Mann. Und der Auftrag, Uria
umbringen zu lassen: Der war kurzschlüssig, aus seiner Angst
erklärbar. "Im Affekt", würden wir sagen. Alles in allem
wenigstens "verminderte Schuldfähigkeit". Der arme David - ein
Opfer der Umstände und seines Seelenlebens.
Vor einem menschlichen Gericht würde man damit vielleicht noch
durchkommen. David weiß: Vor Gott zählt das alles nichts,
sondern hier müssen die Dinge beim Namen genannt werden.
Deshalb erklärt er nicht herum, sondern er kapituliert
bedingungslos vor Gott. Ihm bekennt er seine Sünden und gibt damit
seinem Urteil Recht. Du, Herr, du hast recht, wenn du in deinen Geboten
sagst: Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht töten. Ich will
dir nicht ausweichen. "auf dass du recht behaltest in deinen Worten und
rein dastehst wenn du richtest."
Nehmen wir das als persönliche Frage für uns mit: Wo bekenne
ich meine Schuld, und zwar vor Gott? Und wo möchte ich lieber
Erklärungen suchen, um mich damit selbst zu rechtfertigen? Es ist
vermutlich keine Frage, auf die ich sofort eine Antwort geben kann,
sondern über die ich erst in Ruhe nachdenken muss.
Indem David im Gebet vor Gott kapituliert, erkennt er desto tiefer,
worin seine Sünde eigentlich besteht. Stellen wir eine kurze
kriminalistische Untersuchung an, über den "Fall David". Wer war
eigentlich das Opfer seiner Sünden? Zuerst Bathseba, die er in
Verruf gebracht hat. Danach ihr Mann Uria, den er umbringen ließ.
Auch das königliche Amt, dessen Autorität in Zweifel gezogen
wurde. Denn wer vertraut einem König, für den scheinbar Recht
und Gesetz nicht gelten? Und nicht zuletzt er selbst, der danach alle
Freude in seinem Leben verloren hatte. Meistens ist es so: Wenn ich
sündige, werden Menschen darunter leiden, Beziehungen
geschädigt oder sogar zerbrechen. Und schließlich wird mein
eigenes Leben durcheinander kommen.
Doch so sehr meine Sünde andere und mich selbst belastet: Das
eigentliche Opfer meiner Sünden ist Gott. Ihn verletze ich
damit, und jede meiner Sünden ist wie ein gezielter Stich mitten
in sein Herz. Ich greife den Schöpfer an, der mir mein Leben
gegeben hat, und der jeden Tag für mich sorgt. Meine Beziehung zu
ihm wird zerstört. Und schließlich bringt meine Sünde
Jesus, den Sohn Gottes, ans Kreuz. "Der HERR warf unser aller
Sünde auf ihn." (Jesaja 53,6) In einem Passionslied heißt
es: "Was ist doch wohl die Ursach solcher Plagen? Ach, meine
Sünden haben dich geschlagen; ich, mein Herr Jesu, habe dies
verschuldet, was du erduldet." (Evangelisches Gesangbuch 81,3)
Obwohl David lange vor Christus und seinem Gang ans Kreuz gelebt hat,
ahnt er etwas von der Tiefe seiner Sünde. Deshalb betet er hier im
Psalm: "An dir allein habe ich gesündigt und übel vor dir
getan." Das wichtigste aller Gebete - Herr, sei mir Sünder
gnädig! - ist vor allem dafür da, meine Beziehung zu Gott
wiederherzustellen. Dieses Gebet steht vor allen Versuchen, meine
Sünde auch an den Menschen wiedergutzumachen, die ebenfalls ein
Opfer waren.
Nachdem David seine Schuld vor Gott bekannt hat, betet er einen
weiteren, höchst bemerkenswerten Satz: "Siehe, ich bin als
Sünder geboren, und meine Mutter hat mich in Sünden
empfangen." Was bedeutet das? Es soll sicher nicht heißen: David
ist das Kind eines Seitensprungs, und der König hat deshalb eine
fragwürdige Herkunft. Vielmehr spricht David ein tiefes Geheimnis
an, das alle Menschen gemeinsam haben. Es ist ein Geheimnis, das
so tief vielleicht erst wieder vom Apostel Paulus erklärt wurde
(z.B. in Römer 3,9-20).
Die christliche Kirche hat dieses Geheimnis von Alters her
"Erbsünde" genannt. Es ist so, als ob sich die Sünde auf
geheimnisvolle Weise fortgepflanzt hat, als ob die Sünde irgendwo
im menschlichen Erbgut verankert ist und von Generation zu Generation
weitergegeben wird. Darüber könnte man lange darüber
spekulieren und philosophieren. David tut das nicht, sondern er
drückt eine persönliche Erfahrung aus, die schon manch
anderer mit seinen Sünden gemacht hat. Das geschieht, wenn mir
klar wird: Ich tue nicht nur Sünden. Sondern ich bin ein
Sünder, durch und durch.
Es ist so ähnlich wie bei dem sprichwörtlichen Eisberg. Da
ist auch das meiste unter Wasser, und nur die Spitze, ein Siebtel des
Ganzen, ragt heraus und ist sichtbar. Meine persönliche Vermutung
ist sogar: Ich bezweifle, dass wir auch nur ein Siebtel unserer
sündigen Natur erkennen, ich glaube, es ist viel, viel weniger.
Wir machen uns Illusionen über uns selbst, aber in Wirklichkeit
sitzen wir alle mit David "in einem Boot". Mord und Ehebruch sind
wahrlich keine Kleinigkeiten. Aber eine ganz andere Dimension hat es,
wenn ich hin und wieder einen kleinen Einblick gewinne in die
Abgründe von Schmutz und Dunkelheit, die in mir selbst stecken.
Auch dann, wenn ich schon lange Christ bin!
Diese Entdeckung gehört zu den Haupterkenntnissen der Reformation,
und sie gehört bis heute zu den Lehren, in denen sich die
evangelischen Kirchen von der katholischen unterscheiden. Im
Augsburgischen Bekenntnis von 1530 heißt es: "Weiter wird bei uns
gelehrt, daß nach Adams Fall alle natürlich geborenen
Menschen in Sünde empfangen und geboren werden, das heißt,
daß sie alle von Mutterleib an voll böser Lust und Neigung
sind und von Natur keine wahre Gottesfurcht, keinen wahren Glauben an
Gott haben können..." (Evangelisches Gesangbuch, Nr. 857). Das
Augsburgische Bekenntnis gehört zu den Grundlagen auch unserer
Evangelischen Kirche von Westfalen, und wir Pfarrer werden bei unserer
Ordination darauf verpflichtet. Trotzdem scheinen manche Evangelischen
mit dem Thema "Erbsünde" ihre Schwierigkeiten zu haben, und
verschweigen es lieber. So ist z.B. in unserem Gesangbuch bei den
Wechselpsalmen zwar unser Predigttext, der 51. Psalm, abgedruckt
(Evangelisches Gesangbuch 727). Aber der Vers: "Siehe, ich bin als
Sünder geboren...". Der wird einfach weggelassen und wir bekommen
nur eine "zensierte Fassung" zu lesen.
Ja, wie ist das nun? Muss diese düstere Lehre heute wirklich noch
ein Thema sein? Schreckt so etwas nicht die Menschen davon ab, in die
Kirche zu kommen? Sollte man nicht denken, dass irgendwo tief unten in
uns noch ein "guter Kern" steckt? Und ist es nicht unsere Aufgabe als
Kirche, diesen guten Kern in jedem Menschen zu entdecken und zu
fördern? Ja, so könnte man tatsächlich fragen. So
könnte man fragen, wenn - wenn es nur moralische Verfehlungen
wären, die mich belasten. Denn die könnte ich vielleicht noch
mit Tatkraft und Disziplin bekämpfen. "Wer immer strebend sich
bemüht, den können wir erlösen." So drückt Goethe
seine Hoffnung aus im zweiten Teil seines "Faust" (Faust II, 5. Akt, ab
Vers 11936) . Wenn vor Gott nur das zählte, was man von
außen sehen kann... Aber bei diesem dunklen Teil von mir, unter
der Oberfläche, da kann nur einer helfen: Unser Herr, der auch
diesen Abgrund der Sünde auf sich genommen und ans Kreuz getragen
hat, meine "Erbsünde". Vielleicht verstehen wir jetzt, warum Jesus
seinen Christen diese Bitte ins Vaterunser geschrieben hat: "Und vergib
uns unsere Schuld". Wir brauchen dieses Gebet, wirklich täglich,
damit unsere Beziehung zu Gott bestehen kann. Wir brauchen es alle, und
zwar nicht nur solche, die noch gar nicht den Weg zu Gott gefunden
haben, sondern auch und gerade wir als Christen.
Nun haben wir über das Wesen der Sünde und über die
Vergebung der Sünden nachgedacht. Eine Frage bleibt noch: Was hat
die Vergebung meiner Sünden mit dem Blut Christi zu tun? Was
bedeutet es, dass Jesus gestorben ist - für meine Sünden? Ich
möchte in diesem Zusammenhang einen Vers unseres Psalms
betrachten, der auf Anhieb gar nicht so leicht verständlich ist
(und der, nebenbei bemerkt, in unserem Gesangbuch bei den
Wechselpsalmen ebenfalls "zensiert" wurde): "Entsündige mich mit
Ysop, dass ich rein werde."
Mit Ysop ist nicht die Heil- und Gewürzpflanze gemeint, die auch
bei uns in Europa verbreitet ist, sondern der syrische Oregano. Ein
Jude zur Zeit Davids kannte diese Art Ysop und wurde dabei an eine
Begebenheit erinnert, die für die Geschichte seines Volkes von
größter Bedeutung war: Der Auszug aus Ägypten und die
letzte der zehn Plagen, die Mose dem Pharao angekündigt hatte.
Es war die Nacht, als der Herr die Häuser in Ägypten
heimsuchte und alle Erstgeborenen tötete. Die Israeliten sollten
vorher ein Lamm schlachten. Dann sollten sie einen Ysopzweig nehmen,
ihn in das Blut des geschlachteten Lammes tauchen, und damit die
Oberschwelle und die beiden Pfosten an ihren Türen bestreichen.
(2. Mose 12:22) "Dann aber soll das Blut euer Zeichen sein an den
Häusern, in denen ihr seid: Wo ich das Blut sehe, will ich an euch
vorübergehen und die Plage soll euch nicht widerfahren, die das
Verderben bringt, wenn ich Ägyptenland schlage." (2. Mose 12:13)
Und so geschah es: Anders als beim Pharao und seinen Ägyptern
blieben ihre Erstgeborenen am Leben. Gott ging an ihren Häusern
aber nicht vorüber, weil sie gegenüber den Ägyptern die
besseren Menschen waren. Vielleicht erinnern wir uns: Mose selbst hatte
einen Mord auf dem Gewissen, denn er hatte einen der ägyptischen
Sklavenaufseher erschlagen (2. Mose 2:12ff). Nein, Gott ging
vorüber, weil das Volk Israel auf seine Zusage vertraute: Das Blut
des Lammes soll euch vor meinem Strafgericht schützen. Später
gab es in Israel Opfervorschriften, die eng mit der Reinigung vor Gott
und der Vergebung der Sünden zusammenhingen: Der Priester tauchte
einen Ysopzweig in das Blut des Opfertieres, und besprengte den, der
gereinigt werden sollte. (3. Mose 14)
"Entsündige mich mit Ysop, dass ich rein werde.", so betet David.
Offensichtlich ist ihm klar, dass auch er nur so seine Schuld loswerden
kann, nur so vor dem Zorn Gottes geschützt werden kann. Wenn er
durch das Blut eines Opfertieres gereinigt wird. Wir sind keine Juden,
und wir leben in der Zeit nach Christus. Deshalb können wir solche
Riten und Gebräuche nicht einfach nachmachen. Aber die Reinigung
mit dem blutgetränkten Ysopzweig - sie soll uns erinnern an das
Blut Christi, das er am Kreuz für uns vergossen hat. Der Apostel
Johannes schreibt dazu in seinem ersten Brief: "Wenn wir aber unsre
Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die
Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit." (1.
Johannes 1:9).
Ja, die Vergebung meiner Sünden braucht eine gute Grundlage:
Gottes Sohn, der sein Blut für mich vergossen hat. "Siehe, das ist
Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!" (Johannes 1:29) So
sagt Johannes der Täufer über Jesus. Und vergleicht Jesus
dabei mit einem Opfertier. Und wenn Gott mit mir über meine
Sünde redet, sie aufdeckt. Wenn er mir meine Ausreden aus der Hand
nimmt, und mir meine Abgründe zeigt. Dann weiß ich dennoch:
Jesus ist auch für meine Sünden gestorben. Sein Blut kann
auch mich reinigen, egal wie groß die Schuld ist, die ich auf
mich geladen habe. Zu ihm will ich kommen, so wie ich bin: Als
Sünder. Aber voller Zuversicht, dass er mich von aller meiner
Sünde reinigen kann - und wird. Amen.