Liebe Gemeinde,
Adventszeit ist die Zeit, wo wir uns über Jesus, den König,
freuen können. "Du Tochter Zion, freue dich sehr!" So heißt
es im Wort hier. "Tochter Zion" - so singen wir auch im Lied (EG 13),
mit festlicher, froher Melodie. Was ist das für ein König,
der da kommt? Und warum ist das ein Grund zur Freude?
In manchen Kirchen hängen in der Adventszeit violette Decken am
Altar, in der gleichen Farbe, wie auch in der Passionszeit. Es ist die
Farbe der Besinnung, der Einkehr und der Buße. Die Adventszeit
hat neben der fröhlichen, hellen Seite auch eine ernste Seite, der
man zuerst genau auf den Grund gehen muss, bevor man versteht: Auch das
ist ein Grund zur Freude.
Wir verstehen das besser, wenn wir uns den König genauer
anschauen, der da kommt. Hier hilft ein Vergleich - denn auch anderswo
im Alten Testament wird Gott als ein Gerechter beschrieben. "Gott ist
ein gerechter Richter und ein Gott, der täglich strafen kann."
(Psalm 7:12) So betet der Psalmist. "Du bist gerecht in allem, was du
über uns gebracht hast; denn du hast recht getan, wir aber sind
gottlos gewesen." (Nehemia 9:33) So bekennt das Volk Israel nach der
Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft, bei dem
großen Buß- und Bettag in Jerusalem, nach dem Wiederaufbau.
Ein Gerechter kommt - einer, der die Maßstäbe des Wortes
Gottes an uns anlegt, einer, der unsere Sünde ans Licht bringt und
uns gerecht richtet.
Kann man das so einfach auf Jesus übertragen, den König und
Heiland, auf den wir uns zu Recht freuen? Wenn wir die Evangelien
anschauen, dann sehen wir: Wenn Menschen Jesus begegnen, dann kommen
immer wieder auch ihre dunklen Seiten ans Licht, und gegenüber dem
gerechten König erkennen sie ihre Sünde.
Da kommt der reiche Jüngling zu Jesus, und er prahlt damit, wie er
immer konsequent und ohne Kompromisse nach den Geboten Gottes gelebt
hat. "Da sprach der Jüngling zu ihm: Das habe ich alles gehalten;
was fehlt mir noch?" (Lukas 19:20) Aber als Jesus ihm gleichsam in den
Geldbeutel greifen will: "Willst du vollkommen sein, so geh hin,
verkaufe, was du hast..." Da wird das ganze Elend seines Lebens
offenbar: Sein Gott ist der Mammon, und sein Herz hängt viel mehr
an seinem Besitz als an Gott. Nicht einmal das erste Gebot - "Du sollst
keine anderen Götter haben neben mir!" - nicht einmal dieses Gebot
hatte dieser Prahlhans gehalten. Kenne ich diese Erfahrung auch, wenn
ich Jesus begegne, und ich erkenne, wie wenig mein Herz wirklich an ihm
hängt - dann, wenn es wirklich darauf ankommt, und dann, wenn es
Opfer kostet?
Da kommt eine Frau zu Jesus, eine stadtbekannte "Sünderin", wie es
heißt. (Lukas 7:36-50) Und ich stelle mir vor, wie sie ihr ganzes
zerbrochenes Leben mit sich bringt, ihre zerbrochenen Beziehungen, ihre
zerbrochenen Hoffnungen - und ihr schlechtes Gewissen. Denn sie
weiß genau, dass ihr bisheriges Leben Gott nicht gefallen hat.
Und sie sucht Vergebung bei Jesus, fällt vor ihm nieder, salbt
seine Füße mit Salböl. Alles ist ans Licht gekommen in
der Begegnung mit Jesus. Das, worüber man sich in der Stadt "das
Maul zerrissen" hat. Und das, wovon nur sie selbst und Jesus wissen.
Alles kommt ans Licht. Und Jesus sagt ihr: "Dir sind deine Sünden
vergeben." (Lukas 7:48) Kenne ich diese Erfahrung auch, wenn ich mich
vor Jesus demütige, und frage: Herr, kann ich noch einmal ganz von
vorn anfangen?
Doch auch dann, wenn solche Begegnungen mit dem Gerechten, mit dem
König. Auch wenn solche Begegnungen mit Scham und Reue verbunden
sind. Wenn ich gar darüber heftig erschrecke, wie mein Leben im
Licht des heiligen Gottes aussieht. Selbst dann sind diese Begegnungen
ein Grund zur Adventsfreude. Warum? Weil es besser ist, wenn alles
jetzt ans Licht gezogen wird. Besser jetzt, als wenn es erst im viel
helleren Licht des Jüngsten Tages zur Sprache kommt. Dann, wenn
Jesus, der gerechte Richter. Der, der "kommen wird, zu richten die
Lebenden und die Toten", wie es im Glaubensbekenntnis heißt. Wenn
er mich nach meinem Leben befragt - und ich ihm nichts zu antworten
weiß. Besser jetzt Tränen der Buße geweint, als dann
einmal, eine Ewigkeit lang, fern und getrennt von Gott, zu bereuen, und
sich immer wieder zu sagen: Hätte ich doch, als noch Gelegenheit
war.
Ja, wer den Advent als Zeit der Einkehr und der Buße nutzt. Wer
sein Leben ehrlich in das Licht des gerechten Richters stellt. Der wird
es nicht bereuen. Und wenn er dann das Wort Jesu, des Königs,
hört: Dir sind deine Sünden vergeben. Dann kommt echte Freude
auf.
Noch mehr Freude kommt auf, wenn wir die zweite Beschreibung dieses
Königs betrachten. Er ist ein "Helfer". Jesus, der König -
ein echter Helfer in der Not. Wenn wir jetzt in der Gemeinde
herumfragen würden, dann könnte sicher so mancher etwas dazu
sagen - wie Jesus ihm geholfen hat. Sei es in einer der vielen kleinen
Verlegenheiten des Alltags, wo er ein Stoßgebet erhört hat.
Oder noch vielmehr in großen Nöten, wo ich nicht mehr weiter
wusste, und lange beten und kämpfen musste, bis ich endlich Licht
am Ende des Tunnels sehen konnte. So lange, bis ich schließlich
bezeugen konnte: Wo die Not groß ist, da ist Jesus, der
König, der Helfer, immer noch größer.
Und doch steckt in diesem Wort noch viel mehr. Denn so groß die
Nöte unseres Lebens manchmal werden können. Die Bibel kennt
eine noch viel tiefere Not des Menschen: Unsere Sünden-Not. Die
Not desjenigen Menschen, dem seine Schuld nicht abgenommen, und dem
nicht vergeben wurde. Da passt es, dass schon das Wort "Helfer" im
Originaltext einen besonderen Klang hat. Ein jüdischer Leser, der
seine Bibel auf hebräisch lesen konnte. Der hörte bei
"Helfer" nämlich den jüdischen Namen "Jeschua" mit - für
uns: "Jesus". Und was dieser Name bedeutet, das hat schon der Engel dem
Josef erklärt, als er ihm von der Schwangerschaft Marias sagte:
"Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus
geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden." (Lukas
1:21) "Jeschua" - "Jesus" - er ist unser Helfer vor allem dann, wenn er
unser Heiland, wenn er unser Retter von Sünden wird.
Jetzt wird auch klarer, warum der Einzug nach Jerusalem so
merkwürdig aussieht. (Matthäus 21:1-9) Denn hier kommt kein
machtvoller Herrscher mit großem Gepränge und einer Armee im
Rücken. Wie viel anders sind damals die römischen Feldherren
eingezogen, wenn sie von einer siegreichen Schlacht zurück
kamen! Sondern Jesus kommt "arm und reitet auf einem Esel, auf
einem Füllen der Eselin." Wenn wir uns erinnern, was kurz nach
diesem Triumphzug geschieht, dann erkennen wir es. Gottes Sohn, der den
Himmel und seine Herrlichkeit verlassen hat. Um mitten in der
Armseligkeit der Menschen zu wohnen. Er wird kurze Zeit nach diesem
Einzug im Garten Gethsemane beten, und vor Todesangst zittern - denn er
weiß genau, was auf ihn zukommt. Und dann kommen sie, um ihn zu
verhaften. (z.B. Matthäus 26:36-56) Und er geht den Weg gehorsam
bis zum Ende, so, wie es seit Anfang der Welt beschlossen war.
(Matthäus 27:31ff) Als er dann am Kreuz hängt, und eben nicht
herabsteigt, wie sie es ihm sagen. Als er dann schreit: "Mein Gott,
mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Hier, in seinem Sterben und
in seinem Tod - da wird Jesus, der König, ganz arm. Da ist alle
Herrlichkeit verschwunden - genau so, wie es der Prophet Sacharja
vorausgesagt hatte.
Und doch ist genau das das große Wunder, die erstaunliche, die
merkwürdige Botschaft des Evangeliums: Genau so, durch diese
Armut, durch diese Erniedrigung. Genau dadurch wird Jesus, der
König, wird er unser Helfer, unser Heiland, unser Retter von
Sünden. "Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus:
obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, damit ihr durch
seine Armut reich würdet." (2. Korinther 8:9) So bezeugt es der
Apostel Paulus den Korinthern. Und so bezeugt es das Neue Testament
immer wieder, so ist der Grundton der frohen Botschaft: Jesus, der
König, er wird arm und schwach um unsertwillen, damit er uns
aufrichten kann. Jesus, der König, er nimmt uns unsere Schuld, und
gibt uns seine Gerechtigkeit, seine Gnade und Barmherzigkeit, seine
Vergebung.
Deshalb ist das der Kern der frohen Adventsbotschaft: Schau auf das
Kreuz. Schau, wie dieser wundersame König ganz arm wird für
dich - damit er dich reich beschenken kann. Das ist wahrlich ein "gutes
Geschäft" für uns, seine Armut für unseren Reichtum,
nicht wahr? Schau, wie er, der gerechte Richter, selbst die Strafe auf
sich nimmt. Schau, wie er, der Unschuldige, die Last deiner Schuld
trägt. Und du wirst froh werden darüber.
Ganz persönlich wird die Botschaft hier. Siehe, dein König
kommt - zu dir! Denn hier bin ich selbst angesprochen: Siehe, schau,
pass auf! Er kommt nicht zu diesem oder jenem, sondern er kommt zu dir.
Genau zu dir, der du jetzt hier sitzt und das Wort hörst.
Wer wollte da noch zögern?
Damit wir diesen König nicht verpassen, darum möchte ich zum
Schluss noch eine Begebenheit von einem erzählen, der
tatsächlich einen König verpasst hat. Es ist ein Erlebnis von
Pfarrer Wilhelm Busch. Manche kennen seinen Namen vielleicht von seinem
bekanntesten Buch: "Jesus, unser Schicksal". Er war auf einer Reise in
Skandinavien, und er kam in die norwegische Hauptstadt Oslo. Nicht nur
damals, sondern bis heute haben die Norweger einen König. Und
Wilhelm Busch wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen - denn
es war angekündigt, dass der norwegische König kommen und
vorbeifahren sollte. So stellte er sich an einen entsprechenden Platz,
wo schon eine ganze Anzahl junger Leute standen. Ob die auch ihren
König sehen wollten? Auf einmal kam Bewegung auf, alles rannte zu
einer anderen, entfernten Stelle. Ich folge ihnen besser, denn sie
kennen sich aus, dachte er, und so lief er hinterher. Als er dort
ankam, sah er eine weibliche Person, umringt von einer Menschentraube.
Es war eine international bekannte Schauspielerin, und sie gab
Autogramme für die jungen Leute. Schnell wieder zurück, sagte
sich Busch, und machte sich auf zu seinem alten Aussichtsplatz. Doch -
wie enttäuschend! Es war zu spät, so sagte man ihm. Der
norwegische König war bereits vorbeigefahren. Und so hatte Wilhelm
Busch die Begegnung mit einem echten König verpasst,
unwiderruflich.
Und die Moral von der Geschicht'? Wie es schon höchst bedauerlich
sein kann, wenn man die seltene Gelegenheit verpasst, einmal einen
echten König "live" zu sehen. Wie viel tragischer ist es, wenn ich
die Begegnung mit Jesus, dem König der Welt, verpasse. Wohl dem,
der sich hier nicht ablenken lässt - und das Leben bietet weit
mehr Ablenkungen, als nur die Autogrammstunde mit einer Schauspielerin.
Ja - es ist besonders tragisch, wenn es nie zu einer ersten Begegnung
mit diesem König kommt. Und es verrinnt Jahr um Jahr deines
Lebens. Ein Advent nach dem anderen kommt, die Tannenzweige werden
aufgesteckt, Gott rüttelt dich gleichsam fest an der Schulter, und
er sagt: Siehst du es denn nicht endlich - dein König kommt zu
dir! Aber du schaust höchst angestrengt in eine andere Richtung.
Vielleicht zu deiner Arbeit, vielleicht zu deiner Familie, oder
vielleicht auch zu deinen Sorgen - aber den König verpasst du.
Siehe, dein König kommt. Er kommt nicht irgendwo hin - sondern er
kommt zu dir.
Nein, wir wollen den König der Welt nicht verpassen. Wir wollen
ihm, dem gerechten Richter, nicht ausweichen, wenn er dunkle Stellen
unseres Lebens ans Licht bringen will. Advent - das ist die Zeit der
Buße, die große Chance der Vergebung. Wir wollen ihn, den
König, anschauen, wie er ganz arm wird. Wie er sich für mich
festnageln lässt am Kreuz, und wie er dort zum Helfer in meiner
größten Not wird - in der Sündennot. Ja, Adventszeit
ist vor allem die Zeit freudiger Erwartung. "Siehe, dein König
kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem
Esel, auf einem Füllen der Eselin." Wollen wir es von Herzen
singen und beten: "Komm, o mein Heiland Jesu Christ, meins Herzens
Tür dir offen ist. Ach, zieh mit deiner Gnade ein; dein
Freundlichkeit auch uns erschein." (EG 1,5) Amen.