Gott bestraft sich selbst, oder: Von Weihnachten zu Karfreitag - Passionspredigt über 2. Korinther 5,19-21

Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. 20 So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! 21 Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.

Liebe Gemeinde,
Gott kommt zu uns und wird Mensch, in Christus. Und dieser Christus macht am Kreuz aus uns Sündern Gottes Kinder. Das ist das Wunder von Karfreitag. Das ist das Wunder der grenzenlosen Liebe Gottes.

1. Gott war in Christus

Um das Wunder von Karfreitag zu verstehen, müssen wir zuerst verstehen, wer da an Weihnachten zu uns gekommen ist. Und wer dann schließlich am Kreuz von Golgatha hängt. Die traditionelle Art, in der Kirche Weihnachten zu feiern, beschäftigt sich vor allem mit dem kleinen Menschenkind Jesus, das mehr oder weniger niedlich in seiner Krippe liegt. Wir lesen das Weihnachtsevangelium nach Lukas: "Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde." ... usw. (Lukas 2,1ff). Dazu passt sehr gut ein Krippenspiel und romantische Lieder wie: Joseph, lieber Joseph mein, hilf mir wiegen mein Kindelein. Oder: Süßer die Glocken nie klingen.
Es gibt aber noch eine andere Weihnachtsgeschichte. Sie steht am Anfang des Johannesevangeliums, und sie klingt, als käme sie aus einem anderen Universum: "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. ... Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit." (Johannes 1,1-3.14) Die Anklänge an den Schöpfungsbericht sind unverkennbar: "Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde." (1. Mose 1,1)
Das heißt: Dieses Kind in der Krippe ist nicht nur ein kleines Menschenkind, das gerade das Licht der Welt erblickt hat. Sondern es hält auch alle Sterne in seiner Hand. Alles, was lebt und atmet, ist durch dieses Kind gemacht. Deshalb singen wir mit Martin Luther im Weihnachtslied: "Den aller Welt Kreis nie beschloß, der liegt in Marien Schoß; er ist ein Kindlein worden klein, der alle Ding erhält allein." (Evangelisches Gesangbuch 23,3) Unendlich lange bevor Gott sein erstes Schöpfungswort sprach: "Es werde Licht." (1. Mose 1,3) Da war Jesus schon beim Vater. Deshalb ist Jesus ist so einzigartig und unvergleichlich.
"Gott war in Christus", so drückt Paulus dieses Wunder aus. Die Kirche der ersten Jahrhunderte nach Christus hat dies beschrieben, indem sie sagte: In Jesus Christus sind zwei Naturen vereint. Er ist wahrer Mensch aus Fleisch und Blut wie wir, versuchlich und sterblich. Und er ist ebenso wahrer Gott, das ewige Wort des Vaters, durch das das Weltall erschaffen wurde. Als Jesus aus der Ewigkeit zu uns auf die Erde kam, da ist es, als ob sich seine Gottheit eine Zeit lang versteckt hat. Nicht verschwunden ist sie, aber sie hat sich versteckt, in einem kleinen Kind in der Krippe, in einem wandernden Prediger, in einem sterbenden Mann am Kreuz. Nur ab und zu geschah es, und seine Gottheit schien durch die Menschheit hindurch, so dass sie für die Menschen seiner Zeit sichtbar wurde: Als er den Sturm stillte oder als in göttlicher Vollmacht die Sünden vergab. Jesus Christus - wahrer Mensch und wahrer Gott. Jesus Christus, ein Gott-Mensch, kam in unsere Welt.

2. Und versöhnte die Welt mit sich selbst

In Zeiten des geistlichen Aufbruchs. Wenn der Geist Gottes kommt, und durch eine Gemeinde weht. Da geschehen manchmal eigenartige Dinge, die man sonst so nicht kennt. Wir hatten solche Aufbrüche auch hier in unserer Region, als vor über hundert Jahren die Minden-Ravensberger Erweckung in unser Land kam. Menschen begegneten der Heiligkeit Gottes. Sie spürten den Zorn Gottes über ihre Sünde. Sie spürten ihn so sehr, dass sie nicht ein noch aus wussten. Die Last ihres Gewissens erdrückte sie. Bis sie Jesus fanden, den gekreuzigten Heiland.
Hier kommt der Schrei Jesu am Kreuz ins Spiel: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Markus 15,34) Warum schreit Jesus so? Ist er schon besinnungslos vor Schmerzen, und weiß nicht mehr, was er sagt? Viele Ausleger in der Geschichte der Kirche haben darüber nachgedacht. Die treffendste Erklärung hat meiner Meinung nach Martin Luther gefunden (Psalmenkommentar 1519 bis 1521, nachgewiesen bei: Marc Lienhard, Martin Luthers christologisches Zeugnis, Berlin 1980, S. 88ff). Natürlich hat Jesus vor Schmerzen geschrien, denn er hing an einem der grausamsten Folterinstrumente, das sich Menschen jemals ausgedacht haben. Aber das war noch nicht alles. Vor allem spürte er in seiner Seele den Zorn Gottes.
Paulus schreibt in unserem Predigttext, Gott ".. hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht." Jesus, der Sündlose, trug in sich die Sünde der gesamten Menschheit. Gott selbst hatte ihm diese Last auferlegt. Nicht nur die Sünde aller Menschenschlächter und Diktatoren, die die Geschichte je hervorgebracht hat. Sondern auch deine Sünde, und meine Sünde. Die Sünde von Milliarden von Menschen, aller Menschen, die jemals gelebt haben, und die noch leben werden. Und als Jesus am Kreuz hing, da spürte er den Zorn Gottes über diese unendliche große Sündenlast. Er fühlte, wie Gottes Zorn diese Sünde bestrafte, in ihm, in Jesus. Und dann schrie er: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich habe am Anfang gesagt: Um das Wunder von Karfreitag zu verstehen, müssen wir zuerst begreifen, wer da in Jesus Christus zu uns gekommen ist. Wir haben im ersten Abschnitt der Predigt gesehen: Jesus ist sowohl wahrer Mensch, leidensfähig wie du und ich. Und er ist wahrer Gott,   Schöpfer des Universums, und seit Ewigkeiten ein Teil des dreieinigen Gottes. Wenn nun Gott in Christus war, und in Christus die Strafe über die Sünde der Menschheit vollzogen hat. Dann würde das tatsächlich  bedeuten: Gott hat sich am Kreuz von Golgatha selbst bestraft.
Manche Menschen leiden unter einer merkwürdigen Störung. Sie haben das Bedürfnis, bestraft zu werden, oder sich selbst zu bestrafen. Das kann bis dahin gehen, dass sie sich Verletzungen zufügen. Die Psychologen haben dafür verschiedenartige Erklärungen gefunden. Eins ist dabei klar: Es handelt sich um eine krankhafte Störung, und der Betreffende braucht Hilfe, um davon frei zu werden.  Gott bestraft sich am Kreuz von Golgatha selbst, in Christus, dem Gott-Menschen. Ist das also gleichsam eine "krankhafte" Vorstellung?
Nein, ist es nicht. Denn diese Bestrafung hat ein bestimmtes Ziel: Christus wird "für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt." Wenn wir, die Menschen, die Gerechtigkeit werden, die vor Gott gilt. Wenn wir mit Gott versöhnt werden. Dann heißt das: Der Zorn Gottes über unsere Sünde ist vorbei. Denn der Richter über unsere Sünde wird selbst zum Verurteilten. So groß ist Gottes Liebe zu uns, dass er sich in Christus lieber selbst bestraft, als dass er seinen heiligen Zorn gegen uns wendet. "Denn also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben." (Johannes 3,16)
Ach, wenn wir dieses Wunder von Weihnachten und Karfreitag doch nur besser begreifen würden. Wenn wir doch nur mehr darauf vertrauen könnten. Dass Gott tatsächlich alles getan hat. Damit wir frei und froh als seine Kinder leben können. Voller Vertrauen zu unserem himmlischen Vater, und voller Freude über unsre Erlösung. Wir wollen ihn um seinen Heiligen Geist bitten, damit er dieses Vertrauen in uns stärkt. "Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe! Der gute Hirte leidet für die Schafe, die Schuld bezahlt der Herre, der Gerechte, für seine Knechte." (Evangelisches Gesangbuch 81,4)      Amen.

zurück zur Übersicht