Gott fängt an, wo unsere Möglichkeiten aufhören - Predigt über Jesaja 40,26-31

26 Hebet eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, daß nicht eins von ihnen fehlt. 27 Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber«? 28 Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. 29 Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. 30 Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen; 31 aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und nicht müde werden.

Liebe Geschwister,
Gott fängt da an, wo unsere Möglichkeiten aufhören. "Er gibt dem Müden Kraft, und Stärke genug dem Unvermögenden."
Dass ich an meine Grenzen stoße, dass mir mein eigenes Unvermögen schmerzlich bewusst wird - das kann ja auf ganz verschiedene Weise geschehen. Da hat einer ein Familienproblem, wer weiß wie oft schon hin und her gewälzt. Es scheint wie "verhext". Die betreffenden Leute wollen ja nicht einmal miteinander reden. Ein anderer hat seit Monaten Ärger mit seinem Chef. Was kann ich nur tun, ich fühle mich so machtlos? Als ob es keine Lösung gibt. Wie kann ich das durchhalten? Und ein Dritter: der hat ein Glaubensproblem. Vielleicht ein treuer Mitarbeiter. Und je mehr er sich für die Kirche, für Gott einsetzt, desto mehr spürt er: Wie unzulänglich, wie armselig ist doch meine Christlichkeit. Wie schwach ist doch mein Glaube. Ja, manche scheinbar ausweglose Not kann einen Christen umtreiben. Doch: Gott fängt da an, wo meine Möglichkeiten aufhören. 

1. Gott fängt an, wo ich nur noch Fragen habe

Dass die eigenen Möglichkeiten aufhören - das wussten sie nur zu gut, schon damals. Müde und unvermögend. So ging es denen, für die diese Botschaft zuerst gesagt wurde. Und die Botschaft: Gott fängt da an, wo unsere Möglichkeiten aufhören - die konnten sie nicht so leicht fassen. Jahrelang saßen sie schon im Ausland, unter einer fremden Großmacht geduldet. Man hatte einen großen Teil aus Israel nach Babylonien verschleppt, ihnen Häuser, Grund und Boden einfach abgenommen. Werden wir jemals zurückkommen? In unsere alte Heimat? Viele Fragen stiegen auf. Fragen an Gott.  
Besonders hart traf es die Ernsthaften. Das waren die, die von ganzem Herzen an Gott hingen. Die damals nicht mitgemacht hatten, als in der Heimat alle anfingen, die Götzenbilder zu verehren. "Mein Recht geht an meinem Gott vorüber", so klagten sie. Es ist einfach ungerecht, was mir zustößt. Das habe ich nicht verdient. Hier festzusitzen. Fern von meiner Heimatstadt. Als Leibeigener. Herr, wie kannst du mir das antun? Ich habe doch nichts falsch gemacht. Das darfst du einfach nicht tun!  
Viele Menschen sind auf diese Weise schon in Glaubensnot gekommen. An ihre Grenzen gestoßen. Wenn sie über Gottes Gerechtigkeit nachdenken, sie logisch fassen wollten. Da sagt mir ein alter Mann: "Ich habe meinen Glauben in Stalingrad verloren." Damals, in diesen grausamen Stunden des Zweiten Weltkriegs. Er fragt sich: Wie kann ein Gott der Liebe so etwas zulassen? An so einen Gott kann und will ich nicht mehr glauben. Und so hat er für sich "mit Gott abgeschlossen".
Was soll man einem solchen Menschen sagen als Christ? Viele Denker, auch Prediger, wollten hier schon logische Brücken bauen. Sie wollten Gottes Gerechtigkeit erklären, begreifbar machen. Manche gaben schnelle, einfache Antworten: "Jeder bekommt von Gott das, was er verdient." Andere machten sich hohe, philosophische Gedanken dazu.
Jesaja, der Prophet - er ist viel nüchterner. Und so sagt er von Gott: "Sein Verstand ist unausforschlich." Wie können wir als kleine Menschen überhaupt denken, dass wir den großen Gott mit unserem Verstand fassen könnten? Dass wir in allem verstehen könnten, warum er was tut? Was bei ihm gerecht und ungerecht heißt? "Sein Verstand ist unausforschlich." Wie ist es dagegen mit unserem Verstand, wenn wir uns auf solche verzwickten "Warum?"-Fragen einlassen? Unser Verstand kann sich höchstens verlaufen. Verlaufen in einem Irrgarten von Gedanken. Wenn der Verstand Gott schön "logisch sauber" erklären möchte. Und sortieren will: Das ist gerecht. Das darf Gott. Und das ist ungerecht. Das darf er auf keinen Fall. Nein: "Sein Verstand ist unausforschlich."
Das ist tatsächliche eine ernüchternde Antwort - und nicht unbedingt die, die ein unermüdlicher "Warum?"-Frager erwartet. Es ist aber auch eine befreiende Antwort. Denn wenn wir das wissen, dann können wir uns sagen: Warum soll ich überhaupt erst diesen Irrgarten der Gedanken betreten? Wenn ich weiß, ich finde da nicht mehr heraus? Wenn ich weiß, dass Gott "unausforschlich" ist?

2. Gott fängt an, wo ich mich von ihm allein gelassen fühle

Andere hatten nicht solche Denknöte. Ihre Not war viel einfacher. Sie kannten Gott und wussten, was man in Schwierigkeiten tun soll: Man soll aus allen Nöten ein Gebet machen. So beteten sie und beteten sie. Ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre. Immer weiter schritt die Zeit fort, und immer noch beteten sie. Aber es änderte sich nichts an ihrer Lage. Da würden sie schließlich beim Beten müde. Und sie fragten sich: Könnte es sein, dass Gott mich einfach vergessen hat? Wer bin ich schon, dass er speziell auf mich achten sollte? "Mein Weg ist dem Herrn verborgen." Warum sollte er bei alle seinen großen Plänen ausgerechnet etwas für mich übrig haben? Vielleicht kennt er mich nicht einmal.
Da lädt Jesaja ein zum Sternezählen. "Hebet eure Augen in die Höhe seht! Wer hat dies geschaffen? Er ... ruft sie alle mit Namen." Da kann man schon staunen. Wenn man in einer sternklaren, orientalischen Nacht die Augen zum Himmel hob und versuchte, die vielen, vielen Sterne zu zählen. So war es zu Jesajas Zeiten. Doch: Eigentlich können wir heute noch mehr staunen. Die Erdbevölkerung beträgt Mitte 2006 ungefähr 6,5 Milliarden Menschen. Wie wenig ist das im Vergleich zu Sternen! Haben unsere modernen Instrumente doch über 100 Milliarden Sterne geschätzt, die es im Weltall gibt. Das ist eine Zahl mit 11 Nullen. Unvorstellbar groß.
Viel mehr Sterne gibt es, als Menschen auf der Erde leben. Und Jesaja sagt: "Er (-Gott) ruft sie alle mit Namen." Gott kennt sie alle. Jeden Stern einzeln. Daran können wir denken, wenn wir beten: Ich glaube an Gott den Allmächtigen, Schöpfer des Himmels und der Erde. Nichts weniger als das bedeutet es: Er kennt jeden Stern einzeln. Hat er doch alle geschaffen. Wie sollte er da nicht jeden Menschen einzeln kennen? Wie sollte er nur einen einzigen vergessen? Wo er doch selbst gesagt hat: Die Menschen, sein Ebenbild - die sind das Wertvollste an seiner Schöpfung? Viel wichtiger als alles andere, das er geschaffen hat? Nein: Gott kann mich unmöglich vergessen. Ja - darauf kann ich kommen. Beim Sternezählen. 

3. Gott fängt da an, wo ich auf ihn warte

Da fällt es mir auch leichter, zu glauben. Zu glauben, dass Gott da anfängt, wo meine Möglichkeiten aufhören. Dass über dem Glauben meine Fragen zur Ruhe kommen. Dass ich über meinen Nöten still werden kann. Vor Gott. "... die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft."
Allerdings leben wir in einer Zeit, wo uns genau das schwer fällt. Alles muss sofort gehen: Das Essen gibt es beim Schnellimbiss. Wer zu Hause eine Mahlzeit braucht, kann auf die "Fünf-Minuten-Terrine" zurückgreifen. Der Chef möchte die Arbeit am liebsten bis vorgestern erledigt haben. Ja, selbst beim Beten herrscht Zeitnot: "Geschwister, wir wollen noch kurz beten", so heißt eine gängige Formulierung. Betonung auf "kurz".
Auf den Herrn harren. Ja - das fällt uns heutzutage schwer. Auf Gott zu warten. Bis er eingreift. Auch dann, wenn wir nicht so lange warten müssen wie Gottes Volk damals. Die mussten immerhin 70 Jahre im Exil aushalten - fast ein Menschenleben lang, bis sie sie zurück konnten, in ihre Heimat. So lange lässt sich Gott nicht immer Zeit, wenn wir zu ihm gebetet haben.
Wie gut, dass es immer noch alte Menschen gibt. Menschen aus solchen Zeiten, wo noch nicht alles mit "Turbo-Geschwindigkeit" gehen musste. Menschen, die mit Christus alt geworden sind. Und die in ihrem Leben oft auf Gott gewartet haben. Ich staune immer wieder, wenn ich solchen Menschen begegne. Die mir dann sagen: Es gab Zeiten, da wusste ich morgens nicht, wie ich den Tag durchstehe - bis zum Abend. Und Gott - er hat mir Kraft gegeben. Immer genug - für diesen einen Tag. Und am nächsten Tag - wieder gerade genug bis zum Abend. Und so habe ich geglaubt von einem Tag in den anderen hinein. Gott hat immer da angefangen, wo ich dachte: Jetzt bin ich am Ende.   "Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft."
Eine alte Erfahrung der Christenheit sagt: Der Glaube lebt von Zeugen. Schon der Hebräerbrief redet von "einer Wolke von Zeugen" (Hebräer 12:1). Ja, gerade hier ist das wichtig. Dass wir darüber reden in unserer Gemeinde und uns austauschen. Wie Gott ganz konkret und erfahrbar wird. Und wie er oft da angefangen hat, wo meine Möglichkeiten aufhörten.

4. Gott fängt da an, wo meine Versuche zu glauben aufhören

Gott fängt da an, wo meine eigenen Möglichkeiten aufhören. Ja, da können auch Glaubensnöte zur Ruhe kommen. Und jetzt komme ich zum wohl wichtigsten Punkt. So manch einer, der allen als vorbildlicher Christ bekannt ist. Der stellt nämlich nach vielen Jahren und einer ehrlichen Bilanz fest: So weit ist es mit meiner Frömmigkeit doch nicht her. Wie viel Unzulängliches, ja Böses steckt noch in mir. In mir, der ich doch ein guter Christ sein will! Voller Fragen bin ich. Und dabei sollte ich doch glaubensstark sein. Standfest und zupackend. Die Gemeinde erwartet das von mir, und meine Familie auch. Aber leider - ich bin nicht so christlich, wie ich es mir immer gewünscht habe. Statt dessen bin ich müde. "Glaubensmüde" und geistlich "ausgebrannt".
Wer an dieser Stelle angekommen ist, der mag sich zuerst an ein Wort von Jesus erinnern: "Die Starken bedürfen keines Arztes, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten." (Markus 2:15) Er ruft nicht die Glaubenshelden zu sich, sondern die, die ihre eigene Armut erkennen. Er ruft nicht die, die alles richtig machen. Sondern er ruft die, die ihre Sünden bekennen. Ja, genau für die ist sie da: Seine Vergebung, und seine Kraft für ein neues Leben. Ein neues Leben nicht in eigenen Versuchen, sondern in einer lebendigen  Verbindung mit Jesus Christus. Erinnern wir uns an etwas, was ich schon oft gesagt habe: Dass ich überhaupt an Jesus glauben kann, das habe ich nicht in der Hand. Diesen Glauben kann ich nicht hervorbringen, egal, wie sehr ich mich anstrenge. Diesen Glauben an Jesus, den kann ich nur empfangen. Als ein Geschenk aus Gottes Hand. (vgl. z.B. Epheser 2:8-10)

5. Der fliegende Adler

Jesaja gebraucht dazu ein wunderbares Bild: Er erinnert an einen Adler. Nicht nur in der Bibel ist der Adler ein Sinnbild für Kraft und Stärke. So finden wir ihn als Wappentier an zahlreichen Stellen, etwa als "Bundesadler" im deutschen Staatswappen.
Damit ein solcher Adler so prächtig aussieht und flugfähig bleibt, muss sein Federkleid ständig erneuert werden. Etwa ein halbes Jahr dauert diese sog. "Mauser", bei der vom Kopf bis zum Schwanz nach und nach alle Federn ausgetauscht werden. Wie aus dem Nichts wachsen diese Federn nach. Der Adler versteht nicht, wie das vor sich geht, er kann seinen Federn nicht befehlen, nachzuwachsen, und er kann auch nicht durch besondere Anstrengungen ihr Wachstum beschleunigen. Aber Gottes Schöpferkraft hat eine wunderbare Möglichkeit in ihn hineingelegt. So wachsen die Federn neu, und so bleibt er durch Gottes Kraft so prächtig und kraftvoll, kann "auffahren mit Flügeln". (Informationen und schöne Fotos von Adlern z.B. hier: http://www.baldeagleinfo.com/index.html)
Ja so, wie er dem Adler Kraft gibt für seine Federn, so gibt er beim Glaubenden "dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden". Sei es dort, wo ich aus dem Fragen nicht mehr herauskomme. Sei es dort, wo ich denke, Gott hat mich - scheinbar! - vergessen. Und nicht zuletzt dort, wo ich als Christ von meinem christlichen Unvermögen eingeholt werde, und meine Schuld mich niederdrückt. Überall da fängt Gott an - da, wo unsere Möglichkeiten aufhören. Da kann ich aufstehen, wenn ich gefallen bin. Da kann ich auffahren "wie mit Flügeln". Es lohnt sich, auf dieses Eingreifen Gottes zu warten - und fest auf ihn unseren Herrn zu vertrauen. "...die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und nicht müde werden." Amen.

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