Advent: Gott meldet einen Besuch bei uns an - Predigt über Lukas 1,66-80

Vorbemerkung: Freunde klassischer Kirchenmusik werden den folgenden Text kennen - auf Latein. Es ist das sog. "Benedictus", der Lobgesang von Zacharias, dem Vater des Täufers Johannes. Er ist ein Teil der Messe. Viele berühmte Komponisten der Kirchenmusik haben Messen geschrieben. Ich lese ihn uns - aber auf Deutsch:

66 Und alle, die es hörten, nahmen's zu Herzen und sprachen: Was meinst du, will aus diesem Kindlein werden? Denn die Hand des Herrn war mit ihm.  67 Und sein Vater Zacharias wurde vom heiligen Geist erfüllt, weissagte und sprach:  68 Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk  69 und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils im Hause seines Dieners David  70 - wie er vorzeiten geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten -,  71 dass er uns errettete von unsern Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen,  72 und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an seinen heiligen Bund  73 und an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu geben,  74 dass wir, erlöst aus der Hand unsrer Feinde,  75 ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinen Augen.  76 Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Denn du wirst dem Herrn vorangehen, dass du seinen Weg bereitest,  77 und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk in der Vergebung ihrer Sünden,  78 durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe,  79 damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.  80 Und das Kindlein wuchs und wurde stark im Geist. Und er war in der Wüste bis zu dem Tag, an dem er vor das Volk Israel treten sollte.

Liebe Geschwister,
Gott meldet einen Besuch bei uns an - darum geht es im Advent. "Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk." Lasst uns diesen Besuch etwas näher in Augenschein nehmen.

1. Ein Besuch, bei dem Gott sein Wort hält

Zacharias, der Vater von Johannes dem Täufer. Er wusste aus eigener Erfahrung, was es heißt: auf Gott zu warten. Eigentlich konnte und wollte er es zuerst gar nicht glauben: Du und deine Frau, ihr sollt einen Sohn bekommen. Sie waren doch beide viel zu alt dafür! Mit der Enttäuschung, mit der Schande ihrer Kinderlosigkeit hatten sie sich abgefunden. Und dann, eines Tages im Tempel, lässt Gott ihm sagen: Deine Frau Elisabeth wird dir einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Johannes geben (Lukas 1:13). 
Wir wissen: Weil er dieser Verheißung Gottes nicht geglaubt hat - deshalb hat es Zacharias die Sprache verschlagen, neun Monate lang, bis Johannes auf die Welt kam. (1:20) Er wurde stumm. Das war Gottes Zeichen für ihn. Und dann erlebt er es: Gott hat Wort gehalten, er hat genau das getan, was er ihm vor neun Monaten sagen ließ. Gott hält Wort. Und jetzt lobt Zacharias, er staunt über Gott: Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Gott macht nicht immer alles sofort - aber er wird es tun, alles was er gesagt hat. Wahrlich ein Grund zum Loben und Danken!
Eigentlich steckt aber noch ein ganz anderes Warten dahinter, hinter diesem Lob. Können wir uns das vorstellen - dass ein ganzes Volk wartet, nicht Jahre, nicht Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte? Viele Jahrhunderte lang wartet auf Gott? Israel hatte so lange gewartet. Nicht immer haben alle gewartet. Aber es gab immer solche, die nicht aufgegeben haben - so wie Zacharias, der Vater des Täufers.
Die alten Propheten hatten davon geschrieben: Gott wird einen Retter schicken, einen Befreier, einen Messias. "...wie er vorzeiten geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten." Denken wir etwa an den Propheten Jesaja (aus Jesaja 9): "1 Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. ... 5 Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst..." Um nur ein Beispiel heraus zugreifen - aus vielen, vielen anderen Verheißungen.
Wegen dieser Verheißungen warteten sie. Gott hält Wort, so sagten sie sich. Und wenn jemand müde wurde, müde des Wartens, dann sagten sie ihm: Gib nicht auf. Gott kann nicht lügen. Gott hält Wort. Er wird tun, was er gesagt hat.
Und jetzt geht es los, Schlag um Schlag: Der, das Volk auf den Retter, den Messias, vorbereiten soll - er ist jetzt da. Zacharias Frau Elisabeth hält ihn in den Händen - den neu geborenen Johannes. Der kleine Johannes, der nach menschlichem Ermessen gar nicht da sein kann - von einem alten, unfruchtbaren Ehepaar. Und doch ist er da - weil Gott Wort gehalten hat. Jetzt kann es nicht mehr lange dauern - und der Messias wird selbst kommen.
Es ist sozusagen Advent, damals. Es ist eine dichte, erwartungsvolle Zeit - für alle, die auf den Retter warten. "Gelobt sei der Herr, der Gott Israels!" Gott hat Wort gehalten. Wie sagt man: Gott erfüllt nicht alle unsere Wünsche - aber er hält alle seine Versprechen. So war es damals, und so ist es heute. Gott hält Wort.

2. Ein Besuch, bei dem Gott auf uns zugeht

Ja, es scheint mir immer mehr, als sei die Zeit des wirklich "strammen" Atheismus vorbei. Wie viele religiöse Bemühungen gibt es doch von Menschen, die Gott ihrerseits suchen, oder den Kontakt mit irgendeiner unbestimmten, höheren Macht. Geht in eine beliebige Buchhandlung, oder schlagt die Anzeigen in der Tageszeitung auf: Sei es Kampfsport mit eingeschlossener Bewusstseinserweiterung, geheimnisvolle Edelsteine mit Heilkräften, teure Wochenendseminare zur religiösen Selbstfindung - ein ganzer Markt hat sich hier entwickelt. "Bitte bringen Sie warme Socken und eine Wolldecke mit", wie es da manchmal so schön heißt - damit man es sich bei den Meditationen auch schön gemütlich machen kann. Und wer die Augen offen hält, der weiß: dabei rede ich noch gar nicht von den verschiedenen Veranstaltungen zur Meditation, Selbstfindung usw. - die mittlerweile auch in den verschiedensten kirchlichen Veranstaltungen angeboten werden, hier natürlich unter "christlicher Flagge".
Warum tun Menschen so etwas? Warum sind sie sogar bereit, u.U. dafür viel Geld zu bezahlen? Ich denke: Für die einen ist es ein "Kick", um das ach so fade Leben noch etwas mehr zu würzen. Man will sich doch schließlich nicht langweilen, sondern etwas erleben. Für andere wiederum ist es Ernst: es geht ihnen um ein echtes Suchen nach dem Sinn des Lebens.
Aus welchen Beweggründen auch immer Menschen so etwas tun. Gemeinsam ist jedenfalls allen diesen religiösen Bemühungen: Es wird dabei eine Art Technik, eine Methode vermittelt, um mit irgendeiner höheren Macht in Verbindung zu treten. Die Frage dabei ist: Was muss ich tun, um etwas von Gott zu erfahren (oder wie immer man das höhere Wesen nennt)? Welche Schritte muss ich unternehmen, welche Bedingungen muss ich erfüllen?
Immer geht es dabei um den kleinen Menschen, der irgendwie groß werden will, und aus seinem irdischen Jammertal hinaufsteigt. Hinaufsteigt in höhere, "geistliche" Sphären. Er kann - scheinbar - hinaufsteigen - weil er die "Technik" des religiösen Aufstiegs gelernt hat. Was lässt Goethe dem Doktor Faust sagen, bevor dieser in den Himmel eintreten kann: "Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen."
"Gelobt sei der Herr, ...., denn er hat besucht und erlöst sein Volk." Gott hat besucht - gerade umgekehrt ist es bei dem wahren, bei dem lebendigen Gott. Er ergreift die Initiative, nicht wir. Er steigt zu uns herab auf die Erde, nicht wir schwingen uns zu ihm auf. Er ist zu denen gekommen, die jahrhundertelang auf ihn gewartet haben. Er kommt zu denen heute, die religiös interessiert sind. Und er kommt zu denen, für die Gott schon lange kein Thema mehr ist.
dass Jesus kommt, dass der Messias, der lang angekündigte Retter kommt - ist eine Eigeninitiative Gottes, allein sein Entschluss. Durch keine religiöse Technik lässt er sich herbei zwingen, er lässt sich nicht manipulieren. Er selbst tut einen Schritt auf uns zu. Und er hat dazu einen ganz bestimmten Grund, der in seinem Wesen, in seinem "Charakter" liegt:   "Durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe", so heißt es etwas später im Text. Durch die Barmherzigkeit Gottes - d.h. Gott ist interessiert an uns, er sucht uns, er be-sucht uns.
Genau das bedeutet die Liebe Gottes, seine Barmherzigkeit: Es drängt ihn zu seinen Menschen. Deshalb kommt er. Deshalb kommt Jesus. Und so lautet die Frage nicht mehr: Was für religiöse Dinge muss ich unternehmen, um mit Gott in Verbindung zu treten, um etwas von ihm zu erfahren? Welche geistlichen Übungen muss ich vollführen, welche Bemühungen muss ich "bringen"? Nein - es ist umgekehrt: Gott hat etwas unternommen, um mit mir in Verbindung zu treten. Er hat uns besucht. Jesus ist gekommen. Er steht gleichsam schon vor unserer Tür. Diesen Besuch kündigen wir an im Advent. Nein - die neue Frage lautet nicht "was muss ich unternehmen", sondern: "Wie stelle ich mich zu diesem Besuch? Wie stehe ich zu Jesus?"

3. Ein "Krankenbesuch"

Bei der Vorbereitung fand ich es bemerkenswert herauszufinden, wie die Menschen damals das Wort "besuchen" noch verwendeten. Das Wort, das im Urtext steht - es wurde besonders für Krankenbesuche verwendet. Denken wir z.B. an die bekannte Stelle über die Barmherzigkeit, die Christen an ihren Nächsten tun: "Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. ..." (Matthäus 25:36) Und so heißt "er hat besucht" gleichsam: Jesus macht einen Krankenbesuch. Und dann geht es weiter: "... und erlöst sein Volk." Er löst es los. Es ist gleichsam ans Krankenbett gefesselt durch verschiedene Nöte. Es braucht einen Besuch. Es braucht eine Los-lösung, eine Erlösung. 
Wie war das Volk Gottes gebunden zur Zeit Jesu? Es war durchaus nicht nur die römische Besatzung, durch die Israel bedrückt und gebunden war. Auch das lange Schweigen Gottes, das Warten auf ihn, es war hart. An vielen verschiedenen Orten wartete man auf ihn: Denn das Volk Gottes war nicht mehr zusammen in Israel. Viele Juden lebten zerstreut, rund um das Mittelmeer, weit weg von der Heimat.
Was aber noch viel schlimmer war: Das Volk lag geistlich gesehen am Boden. Die Leute in Israel fragten nicht mehr nach Gottes Geboten. Viele fragten vor allem nach sich selbst, nach ihren eigenen Interessen. Wer reich war, wollte gern reich bleiben - koste es, was es wolle. Und die auf der Schattenseite des Lebens - sie waren arm, und sie wurden noch ärmer. Die Beziehungen untereinander waren nachhaltig gestört. Um nur ein Beispiel heraus zugreifen.
Dabei war es doch das Volk Gottes. Das Volk, bei dem Gott im Mittelpunkt stehen wollte, wo er den Alltag prägen wollte. Das Volk, bei dem Gott die Beziehungen untereinander ordnen wollte. Aber jetzt war so vieles zerstört, das Miteinander zerbrochen. Es war eine verfahrene Situation, sie waren verstrickt, gebunden. Gegen Ende des Textes heißt es: "... und er richte unsere Füße auf den Weg des Friedens." Sicher ist damit auch der Seelenfrieden gemeint, wenn ein Mensch seinen Frieden mit Gott findet. Jesus, der Friedefürst, bringt den Frieden mit Gott - das ist wohl wahr. Aber ebenso können wir hier den Frieden sehen, der zerbrochene Beziehungen unter Menschen wieder in Ordnung bringt.
Vor einiger Zeit berichtete mir einmal eine Frau, die schon lange im Glauben stand, wie es ihr am Anfang mit Jesus erging. Sie war früher zum Glauben an Jesus gekommen als ihr Ehemann - und es war nicht immer einfach für die beiden. Ich glaube es war der Mann, der mir dann sagte: "Als ich später dann auch zum Glauben kam, da hat das unsere Ehe gerettet."
Es ist schon erstaunlich, was das Eingreifen Jesu bewirken kann: "... und richte unsere Wege auf den Weg des Friedens." Ich denke, das Wichtigste ist dabei nicht, dass er perfekte Heilige aus uns macht - das wäre eine Illusion. Aber ein Mensch, den Jesus erlöst hat. Der die Vergebung der Sünden erfahren hat, die Jesus den Menschen bringt. Der wird lernen: So, wie der Herr mir vergeben hat, so will ich auch vergeben. Auch meinem Partner will ich immer wieder vergeben. Denn der lebt mit mir am engsten zusammen - und der kann mich deshalb auch am meisten verletzen. Und genau so will ich manchem anderen vergeben, der an mir schuldig geworden ist. Wer weiß, wie sehr er selbst auf Vergebung angewiesen ist - der hat den wichtigsten Schritt getan auf dem "Weg des Friedens". So kann Jesus gleichsam Beziehungen "heilen" - um einmal im Bild des "Krankenbesuchs" zu bleiben.
Die Frage ist nur: Lasse ich den Besuch herein? Sehe ich, wie ich mich nicht zu ihm aufzuschwingen brauche, mit allerlei religiösen Verrenkungen? Sondern dass er schon längst vor der Tür steht? Glaube ich ihm, dass er in jedem Fall sein Wort halten wird?  "Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an." (Offenbarung 3:20) Wohl dem, der hier Jesus die Türe öffnet. Der wird erfahren: da kann ich dann nur noch loben und staunen. Ja, das ist dann ein rechter Advent. "Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk."  Amen.   

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