(Jesus sagt :) 36 Seid
barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37 Und richtet nicht,
so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht
verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. 38 Gebt, so wird euch
gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und
überfließendes Maß wird man in euren
Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr
meßt, wird man euch wieder essen. 39 Er sagte ihnen aber auch
ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen?
Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? 40 Der Jünger
steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist
er wie sein Meister. 41 Was siehst du aber den Splitter in deines
Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? 42
Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den
Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken
in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und
sieh dann zu, daß du den Splitter aus deines Bruders Auge
ziehst!
Liebe Gemeinde,
das Richten anderer Menschen - das ist uns als Christen aus der Hand
genommen. Das ist eine Aufgabe mit
der wir nichts mehr zu tun haben. Denn Jesus, der Richter der Welt. Er
hat sich selbst richten lassen, für unsere Sünde.
Wenn wir das verstehen, wenn wir darin leben. Dann wird sich bei uns
genau das zeigen, was die Bibel "Barmherzigkeit" nennt.
Ein oft gebrauchter Satz
besagt: "Man sollte keine anderen Menschen zu schnell verurteilen." Ist
so etwas gemeint bei dem, was Jesus hier sagt? Nein. Wenn wir diese
Sätze Jesu so ansehen wie allgemeine menschliche Weisheiten:
"Man sollte niemanden zu schnell verurteilen." Dann haben wir das
meiste davon nicht verstanden. Also fragen wir genauer: Warum
sagt Jesus solche Sätze eigentlich? Was steht dahinter?
Wenn wir den Dienst Jesu betrachten, wie er uns in den Evangelien
geschildert wird, dann stellen wir fest: Das hier ist kein Einzelfall.
Neben vielen einladenden und tröstenden Worten spricht Jesus
oft - auch in scharfer Form - menschliche Fehler, Schwächen
und Sünden an. Häufig hat man ihm das sehr
übel genommen. Aber warum tut er dann so etwas?
Im Glaubensbekenntnis sprechen wir: Er wird kommen, zu richten die
Lebenden und die Toten. Schon während seiner Zeit auf Erden
hat Jesus klar gemacht: Ihm, dem Herrn über Himmel und Erde.
Ihm steht diese Aufgabe tatsächlich zu, den Menschen zu
richten. Nicht, weil Jesus eine so hohe und vorbildliche Moral hat.
Sondern weil er Gott ist. Das wird mich vorsichtig machen. Ich bin
nicht Gott, ich bin ein Mensch. Wenn ich richte, begebe ich mich auf
das Hoheitsgebiet Gottes. Und da gehöre ich nicht hin.
Wir müssen aber noch über diesen Text hinausschauen.
Mit diesen und ähnlichen Worten war der Dienst Jesu
für uns Menschen ja noch nicht zu Ende. Als er ihn vollendete
und am Kreuz für uns starb. Da hatte er nicht nur
Schreckliches zu erleiden, sondern da hielt Gott Gericht. Paulus konnte
später darüber schreiben: "...das tat Gott: er sandte
seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der
Sünde willen und verdammte die Sünde im Fleisch..."
(Römer 8,3) Dort, vor 2000 Jahren, auf dem
Hügel von Golgatha. Dort hielt Gott Gericht über
meine Sünde. Über die Sünde meiner Freunde.
Über die Sünde meiner Feinde. Über die
Sünde der ganzen Menschheit, in Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft. Gott "verurteilte die Sünde im Fleisch". Er richtete
sie, an seinem Sohn, an diesem einen Menschen Jesus Christus.
Daraus kann ich schließen: Wenn ich einen anderen Menschen
richte, dann begebe ich mich nicht nur auf Gottes Hoheitsgebiet.
Sondern dann komme ich 2000 Jahre zu spät. Wer da noch richten
will, der ist wie ein übereifriger Polizist. Der hört
von einem Tumult in einer anderen Stadt. Und er fährt los,
ohne jeden Auftrag seiner Zentrale, mit Blaulicht. Als er ankommt, will
er dort alles "richten" und für Ordnung sorgen. Aber es ist
kein Tumult mehr da. Seine Vorgesetzten haben längst alles
Nötige veranlasst. Und sein übereifriger Einsatz -
der war einfach überflüssig. Denken wir daran, wenn
wir wieder einmal - wie so viele Menschen - versucht sind und richten
wollen. Dann sag dir: Du bist 2000 Jahre zu spät. Gott hat dir
das schon lange aus der Hand genommen, was du gerade tun willst. Er hat
die Sünde schon längst gerichtet.
Wer mitgedacht hat, mag nun vielleicht einwenden: Du sagst, Jesus sei
unser einziger und rechtmäßiger Richter. Aber hat
nicht gerade sein Ende am Kreuz etwas ganz Anderes gezeigt? Als er
seine Feinde nicht verurteilte, nicht richtete - sondern für
seine Feinde betete? Hier liegt in der Tat ein großes
Geheimnis verborgen. Unser Vater im Himmel ist barmherzig. So
fängt Jesus hier seine Rede hier an. Und genauso zeigte es
sich an seinem Ende: Nachdem sich viele gegen Jesus verschworen hatte.
Nachdem man ihn in einem höchst ungerechten Prozess, durch
falsche Zeugen, und abgesegnet durch den Feigling Pontius Pilatus.
Nachdem man ihn so ungerecht "gerichtet" hatte, wurde er auch noch
bestraft. Er wurde bestraft für eine Schuld, die er nie
begangen hatte. Der Prophet Jesaja drückt das so aus: "Die
Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten,
und durch seine Wunden sind wir geheilt. " (Jesaja 53,5)
Jesus, der rechtmäßige Richter der Welt,
lässt sich verurteilen und nimmt das Gericht auf sich. Dabei
hätte eigentlich ich dort hängen müssen, am
Kreuz, rechtmäßig verurteilt für die
gesammelten Sünden meines Lebens. Das ist das
Geheimnis von Gottes Barmherzigkeit: Dass er mir nicht nur das Richten
aus der Hand genommen hat, sondern dass er das Urteil auf sich selbst
genommen hat. Und so wird Jesus, der verurteilte Richter,
mein barmherziger Herr und Heiland.
In der Tat sind damit noch
nicht alle Fragen beantwortet, und der Text ist auch noch
längst nicht ausgeschöpft. Leider hat man dieses
"Verbot zu Richten" in allerlei Weise verbogen und falsch verstanden.
Deshalb zuerst: Was soll es nicht heißen?
Das Erste ist noch am einfachsten einzusehen: Es soll sicher nicht
heißen, dass es in einem Staat keine Gerichte und
keine Richter mehr geben soll, und niemand für
offensichtliches Unrecht verurteilt und bestraft wird. Die Erfahrung
zeigt: Wo das in einem Staat ganz ausfällt, und keine Justiz
mehr arbeitet. Da gilt gewöhnlich ein anderes Gesetz: das
"Gesetz des Dschungels". Und Recht hat dann der, der sich am
rücksichtslosesten durchsetzt. Nein, Jesus hat nirgends das
staatliche Richten außer Kraft gesetzt. Und als man ihn bei
einer Erbschaftsstreitigkeit als amtlichen Richter in Anspruch nehmen
wollte. Da sagte er kurz, aber deutlich: "Mensch, wer hat mich zum
Richter oder Erbschlichter über euch gesetzt?" (Lukas 12,14)
Das zweite Missverständnis ist schon etwas schwerer zu
verstehen. Vor ungefähr 300 Jahren begann es, dass die
Philosophen den Begriff "Freiheit" neu definierten. Der Mensch ist
frei, das heißt: Er sucht sich seine eigenen
Maßstäbe für das, was richtig und falsch
ist, und lebt danach. Niemand soll ihn davon abhalten, denn das
wäre autoritär und ein Eingriff in seine
rechtmäßige Freiheit. Manche drücken diese
Lebensphilosophie auch etwas derber aus: "In mein Leben lasse ich mir
von niemandem hereinreden." Mein Geld gehört mir. Meine
Lebensplanung gehört mir. Oder, ein bekanntes Schlagwort: Mein
Bauch gehört mir. Will heißen: mitsamt dem
ungeborenen Leben darin. Usw. usw. Es gehört alles mir, und
niemand hat mir da hereinzureden. Kein Mensch. Und schon gar nicht
Gott. Es ist bedrückend, wenn sich auch die christliche
Gemeinde an dieser scheinbaren Freiheit orientiert und daraus
schließt: Jesus hat gesagt, man solle nicht richten. Also
wollen wir uns als Christen nicht gegenseitig in unser Leben
"hereinreden", sondern jeder soll selbst seine so genannte Freiheit
haben. Egal, ob er Gottes Gebote übertritt und dabei in sein
Verderben rennt. Wir wollen ja nicht richten.
Nein, das kann mit dem "Nicht-Richten" kaum gemeint sein. Jesus und
seine Apostel haben uns immer wieder klar gemacht, dass wir uns
umeinander kümmern sollen. "Darum ermahnt euch untereinander
und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut." So schreibt der Apostel
Paulus an die Gemeinde in Thessalonich (1. Thessalonicher 5,11). Und
wenn einer unbekümmert ein Gebot Gottes nach dem anderen
überfährt, wie andere rote Ampeln
überfahren. Dann kann ich nicht einfach danebenstehen. Dann
muss ich auch einmal "hereinreden", mit Respekt und Liebe, aber
deutlich, selbst wenn das unangenehm für alle Beteiligten ist.
Was aber ist dann damit
gemeint: "Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet" ? Einige
Dinge haben wir ja schon oben betrachtet - kehren wir noch einmal dazu
zurück. Wenn mir einer offen sagt: Ich bin kein Christ, und
ich will das auch nicht sein. Oder er sagt: An ein höheres
Wesen, an einen Gott im Allgemeinen glaube ich schon. Aber dass Jesus
mein verurteilter, gekreuzigter Richter sein soll. Der am Kreuz sein
Blut für mich vergossen hat, zur Vergebung meiner
Sünden. Das finde ich eine unmögliche Vorstellung.
Wenn einer so etwas sagt, habe ich seine Worte ernst zu nehmen -
schließlich hat er damit sein persönliches
"Glaubens"- Bekenntnis abgelegt, und sein eigenes Urteil gesprochen.
Das heißt aber nicht, dass wir uns in Gottes Richteramt
einmischen sollen. Ja, wir sollen uns umeinander kümmern, wenn
nötig, auch zurechtbringen. Aber zu beurteilen, wie einer im
Herzen vor Gott steht. Wer nun gläubig ist, und wer nicht. Das
zu beurteilen, ist mir aus der Hand genommen. Bei allem mehr oder
weniger klugen Nachdenken über meinen Nächsten werde
ich immer nur zu vorletzten Urteilen kommen. Das letzte Urteil steht in
der Hand des Herrn, an dem Tag, wenn jeder von uns vor seinen
Schöpfer treten muss.
Kehren wir am Schluss noch einmal zurück zu Gottes
großzügiger Barmherzigkeit. Wie anders verhalten wir
uns, viel zu oft. Jesus beschreibt das im Gleichnis vom Balken und vom
Splitter. Es entspricht einer alltäglichen Erfahrung: Ich
nehme beim anderen meistens die Schwächen am besten wahr, die
ich auch meine größten Schwächen sind. Und
so bin ich kleinlich, und bin streng, viel strenger als zu mir selbst.
Wie komme ich aus dieser Denkweise heraus?
Moralische Appelle helfen da nicht wirklich. Aber es hilft, wenn ich an
Christus denke, der am Kreuz sein Blut für mich vergossen hat.
Ich habe das nicht verdient. Wenn ich daran denke: Wirkt da nicht
vieles, über das ich mich ärgere an meinem
Mitmenschen, und was ich so kritisiere und benörgle. Wirkt
nicht vieles davon entsetzlich kleinkariert, unpassend, und einfach
daneben? Wenn ich mir die großzügige Barmherzigkeit
des verurteilten Richters? Meines gekreuzigten Herrn und Heilands vor
Augen stelle? Liebe Gemeinde. Ich wünsche uns, dass unser Herr
uns immer mehr das Richten aus der Hand nimmt. Und uns das Herz
erwärmt, zur Barmherzigkeit. Denn er war zuerst barmherzig zu
uns. Amen.