Liebe Gemeinde,
das Vaterunser ist bis heute das
Gebet der christlichen Kirche. Viele kennen es - selbst solche
Menschen, die sonst nie in die Kirche kommen. Es ist eben so eine Art
"Markenzeichen" der Christen. Grund genug, es sich einmal genauer
anzuschauen - denn so war das von Jesus gemeint, als er zu seinen
Jüngern sagte: Darum sollt ihr so beten. Wir sollen es nicht nur
nachsprechen - das auch. Aber wir sollen es insbesondere als eine Art
Muster, ein Beispiel, eine Grundidee nehmen. Für unser ganzes
Gebetsleben. Für unsere Beziehung zu Gott.
Weil es von Jesus so grundsätzlich, so konzentriert gemeint war.
Möchte ich das Ganze in zwei Predigten aufteilen und heute nur die
ersten beiden Verse betrachten:
"Darum sollt ihr so beten: Unser
Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein
Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden."
Es ist schon einige Jahre her, da wurde von einer ehemaligen
Muslimin ein Buch geschrieben. Sie war eine Frau aus Pakistan, die
Christin geworden war. Das Buch hat den Titel "Allah - mein Vater?" Es
war für sie erstaunlich, überwältigend, kaum zu fassen.
Dass man Gott tatsächlich wie einen guten Vater erfahren kann -
nicht wie einen fernen, allmächtigen Herrscher im Himmel. Gibt es
so etwas - Gott, mein Vater? Zu dem ich eine ganz enge,
persönliche Beziehung haben kann?
Es ist etwas Einmaliges am christlichen Glauben. Dass wir durch Jesus
Christus, durch sein Opfer am Kreuz, tatsächlich zu Gott "Vater"
sagen können. Selbst das alte Volk Gottes, das Volk Israel kannte
das so nicht. Wenn wir im Alten Testament schauen, dann wird Gott
praktisch nie mit einem Vater verglichen, oder so angeredet. Das ist
etwas, das uns erst Jesus Christus gebracht hat.
Deshalb will Jesus uns nahelegen: Das erste und wichtigste beim Beten
ist diese Grundhaltung. Diese Haltung des Vertrauens, dass ich
weiß, beim Beten: Wenn ich jetzt durch meinen Herrn Jesus
Christus zu Gott komme. Dann komme ich nicht zu irgendwem, der
unfassbar weit weg ist. Sondern dann komme ich zu meinem Vater im
Himmel. Er ist mir so nah, und er meint es so gut mit mir wie ein guter
menschlicher Vater. Und er ist mehr als das: Denn wir menschlichen
Väter haben alle unsere Begrenzungen, unsere Schwächen,
unsere Fehler. Aber mein Vater im Himmel: Der hat keine Grenzen,
sondern er ist der Herr des Universums. Nichts gerät ihm
"außer Kontrolle". Er hat keine Fehler - sondern er ist der
einzige Vater, der wirklich vollkommen gut ist. Wie schon Jesus selbst
sagte (Markus 10,18): "Niemand ist gut als Gott allein."
So sagt es uns auch der Apostel Paulus, als er über unsere
Beziehung zu Gott redet, und über das Gebet. Er sagt: Das ist das
Werk des Heiligen Geistes in unseren Herzen, dieses unbegrenzte
Vertrauen zu Gott. "Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist
empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müßtet;
sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen:
Abba, lieber Vater!" (Römer 8,15) Das erste und Wichtigste beim
Beten ist, dass ich weiß: Ich bin ein Kind Gottes. Jesus Christus
hat mich zu einem Kind Gottes gemacht hat, dadurch dass er sein Blut
für mich vergossen hat. Und so weiß ich: Jetzt komme ich zu
meinem lieben Vater. "Vater unser im Himmel."
Ich habe gesagt, dass ich das Ganze in zwei Predigten aufteilen
möchte. Das war nicht einfach meine eigene Idee. Sondern Jesus
selbst hat sich diese Zweiteilung so gedacht. Wenn wir genau
hinschauen, dann stellen wir fest: Die ersten drei Bitten beziehen sich
ausschließlich auf Gott: dein Name, dein Reich, dein Wille. Und
dann geht es um unser tägliches Brot, um unsere Schuld, und um
unsere Anfechtungen. Eigentlich ist es so ähnlich wie bei den Zehn
Geboten: Die ersten regeln unser Verhältnis zu Gott: "Ich bin der
Herr, dein Gott." Und die folgenden unser Verhältnis unter uns
Menschen.
Wenn man Kinder fragt, was sie beten. Dann hört man oft: Ich bete
für mich, vielleicht für die Eltern und Geschwister. Manchmal
auch noch für weiter entfernte Menschen. Was ja für ein Kind
schon eine ganze Menge ist. Nun ist es kein Zufall, dass Jesus uns
lehrt - und er redet hier zu Erwachsenen! Denkt beim Beten nicht zuerst
an euch, an eure menschlichen Bedürfnisse, Sorgen, Nöte,
Fragen. Sondern denkt zuerst an die "Bedürfnisse" eures Vaters im
Himmel. Und ich glaube, dass es eine kleine Revolution in unserem
Christsein geben würde. Wenn wir uns darauf einließen, und
in unseren Gebeten immer zuerst an Gottes "Bedürfnisse" denken
würden. Und dann erst an unsere, an die menschlichen. Eben so wie
hier im Vaterunser.
Man kann das an der ersten Bitte sehr gut sehen: "Geheiligt werde dein
Name". Vielleicht hilft auch hier ein Vergleich mit menschlichen
Beziehungen, um das zu verstehen. Wenn ich über meine Frau
höre, dass andere Gutes von ihr reden. Dass sie gelobt wird und
Anerkennung erfährt. Dann freue ich mich. Wenn sie dagegen
herabgesetzt wird, schlecht behandelt, vielleicht sogar öffentlich
beleidigt wird. Dann bin ich traurig, oder auch wütend. Ich
versuche vielleicht, dagegen vorzugehen. Auch bei Kindern ist es
ähnlich. Meistens sind Kinder mächtig stolz auf ihre Eltern -
besonders, wenn sie noch jung sind. Und wir Erwachsenen wissen
vielleicht aus unserer eigenen Schulzeit, wie man damit angeben konnte.
Was die so alles können, der Vater, die Mutter - die anderen
Eltern natürlich nicht, bei weitem nicht...
Wir leben ja in einem Land, in dem die meisten mit Gott nicht mehr viel
anfangen können. Kaum einer findet noch etwas dabei, wenn etwa in
der Werbung Kirchen, Geistliche, Gebete, Jesus, seine Jünger, die
Schlange im Paradies mit Adam und Eva usw. usw. benutzt werden.
Benutzt, um irgendein "himmlisches" Produkt oder eine lohnende
"sündhafte" Anschaffung zu verkaufen. Bei manchen ist es schick,
jede Überraschung mit einem "O Gott" zu quittieren. Und in Filmen
wie z.B. dem bekannten "Das Leben des Brian" lacht man sich kaputt
über Jesus, über seine Botschaft und über seine
Kreuzigung.
Da die Mehrzahl in unserem Land nicht an Jesus gläubig ist, ist
das eigentlich kein Wunder, wenn sich kaum einer daran
stößt. Jedoch: Wie geht es mir, als gläubigem Menschen,
wenn ich so etwas mitbekomme? Geht es mir so wie dem Kind, wenn die
eigenen Eltern von Mitschülern verspottet werden? Geht es mir so,
wie wenn mein Ehepartner herabgewürdigt wird? Oder lässt mich
das eher kalt - wenn es "nur" um meinen Vater im Himmel geht? Denke ich
vielleicht: Das macht Gott doch nichts aus, wenn man ihn so behandelt?
Ich sage das so zugespitzt, damit wir verstehen, worum es geht.
"Geheiligt werde dein Name" ist die erste Bitte im Vaterunser.
Gewöhnlich stellt man das Wichtigste an den Anfang. Offensichtlich
ist das für Jesus das Wichtigste: Dass der Vater im Himmel
würdig behandelt wird unter den Menschen. Ich denke, auch Jesus
weiß, dass wir nicht immer etwas sagen können. Dass man
nicht immer dagegen halten kann, wenn Gott verspottet wird. Aber eines
können wir tun: Wir können es zu unserem ersten
Gebetsanliegen machen und darum bitten: Lieber Vater. Ich wünsche
mir, dass dein Name würdig behandelt wird. Dass niemand dich und
dein Wort in den Schmutz zieht. Sondern dass man gut und respektvoll
von dir denkt und redet. "Dein Name werde geheiligt."
Und ich möchte das einfach als einen herausfordernden
Gedankenanstoß weitergeben. Mit dem ich - zugegeben - selbst noch
lange nicht fertig bin. Was könnte das heißen für unser
Gebetsleben: Dass Jesus die Heiligung von Gottes Namen vor die Bitte um
unsere täglichen Bedürfnisse gesetzt hat, an die allererste
Stelle. Wie könnte das meinen Blick verändern? Meinen Blick
auf meinen lieben Vater im Himmel? Und den Blick auf meine eigenen
Bedürfnisse und Sorgen - die mich so oft in Beschlag nehmen?
Manche unter uns beten regelmäßig für unsere
Gemeinde. Manche beten auch noch für die Arbeit in fernen
Ländern, für andere Kirchen, für die Mission. Genau um
diese Arbeit geht es, wenn Jesus in den Evangelien immer wieder vom
"Reich Gottes" redet. Und darum geht es zuerst, wenn wir beten "dein
Reich komme, dein Wille geschehe". Das nächste, was uns - nach dem
Namen Gottes - ans Herz gelegt wird: Das ist die Sache des Evangeliums.
Das ist das Anliegen: Wenn doch Jesus überall als der Herr
angenommen wird!
Es ist durchaus nicht klar, wo man in dieser verworrenen Welt. Wo man
da noch etwas von Gottes Reich, von seiner Herrschaft sieht. Wo denn da
sein Wille geschieht. Manchmal könnte man viel eher denken: Gott
hat die Kontrolle verloren. Oder: Diese völlig verrückte Welt
interessiert ihn nicht mehr - soviel Übles und Gottloses geschieht
dort.
Als Jesus seinen Jüngern erklärt, was das Reich Gottes ist.
Z.B. in Matthäus Kapitel 13. Da redet er zu ihnen über das
Wort Gottes. Wie es verkündigt wird. Wie so manche es hören.
Und wie nur wenige davon sich das Gehörte auch zu Herzen nehmen.
"Bei dem aber auf gutes Land gesät ist, das ist, der das Wort
hört und versteht und dann auch Frucht bringt; und der eine
trägt hundertfach, der andere sechzigfach, der dritte
dreißigfach." (Matthäus 13,23) Wenn wir also beten: Dein
Reich komme. Dann beten wir damit: Herr, wir wünschen uns, dass
dein Wort gehört wird. Dass man es annimmt. Dass es auch uns
selbst erreicht. Dass deine Gemeinde wächst. Ja, da wo Gottes Wort
klar und deutlich verkündigt wird. Da, wo man auf Gottes Wort
hört. Da ist tatsächlich das Reich Gottes bei uns angekommen.
Da sieht man etwas davon, dass Jesus tatsächlich der Herr ist.
Und wünsche ich mir, dass wir immer mehr begreifen: Wenn wir
für die Gemeinde und für die Verkündigung des
Evangeliums beten, dann tun wir in erster Linie "Fürbitte für
Gott" - wie schon bei der Bitte "Geheiligt werde dein Name". So wie es
im Lied heißt: "O daß doch bald dein Feuer brennte, du
unausprechlich Liebender, und bald die ganze Welt erkennte, daß
du bis König, Gott und Herr!" (EG 255,1) Darum geht es in der
Gemeindearbeit: Es geht in erster Linie darum, dass Gottes Name gelobt
und geheiligt wird, dass Gott dabei "groß herauskommt". Erst in
zweiter Linie geht es darum, dass wir uns über gut besuchte
Gottesdienste, lebendiges Gemeindeleben und schöne Gemeinschaft
freuen. Es ist gewissermaßen ein Nebeneffekt, der uns als
gleichsam als Gratisbeigabe zukommt. Dort, wo Gottes Reich sich
ausbreitet, und wo man sein Wort hört.
Wenn wir mit dieser Einstellung beten für die Gemeinde. Dann
können wir das sehr zuversichtlich tun - weil es Gottes eigenes
Anliegen ist. Und wir kommen zu dem paradoxen Schluss: Da, wo wir
unsere eigenen Sorgen und Klagen über den Zustand der Kirche und
unserer Gesellschaft vergessen. Wo wir statt dessen sagen: Lieber Vater
im Himmel. Es geht doch nicht um uns. Es geht um dein Reich. Es geht um
deinen Willen. Es geht um dein Wort. Wo wir so beten, da sind wir ganz
nah dran am Herzen Gottes. Nah dran an seinen Wünschen für
uns und für unsere Welt. Da können wir Überraschungen
erleben, was Gott auf unsere Gebete hin tut. Es ist nicht immer das,
was wir uns wünschen. Aber es ist das, was sein Reich und seinen
Willen fördert.
Lassen wir uns vom Vaterunser herausfordern. Lassen wir uns
herausfordern, im Gebet nicht zuerst an uns und an unsere Anliegen zu
denken. Sondern zuerst zu sagen: Dein Name werde geheiligt. Dein Reich
komme. Dein Wille geschehe. Aber vor allem: Vergessen wir dabei nicht,
mit wem wir reden. Wir reden mit unserem himmlischen Vater. Der uns
liebt, mehr als ein irdischer Vater es je könnte. Und dem keine
Schwierigkeit zu groß ist - denn er ist immer noch
größer. "Vater unser im Himmel." Amen.