Was ist eigentlich Sünde? - Predigt über Psalm 51,1-14

Liebe Gemeinde,
Jesus ist gestorben am Kreuz für unsere Sünden. Diesen Satz haben wir vermutlich schon oft gehört, auf die eine oder andere Weise. So weit, so gut. Nur - was ist eigentlich Sünde? "Jetzt haben wir mal wieder richtig gesündigt". So sagt man z.B, wenn man mehr gegessen und getrunken hat, als der Gesundheit zuträglich ist. Wenn wir über eine rote Ampel fahren, landen wir in der so genannten Verkehrssünderkartei und bekommen Punkte. Und manche nehmen Sünde auch humorvoll, und singen mit Willy Millowitsch: "Wir sind alle kleine Sünderlein."
Was aber versteht die Bibel darunter? Und wie geht Gott damit um? Dass der Mensch, ja die ganze Welt, von der Sünde geprägt sind, findet sich in der Bibel an verschiedenen Stellen ausgedrückt. Eines wird dabei klar: Wirklich begreifen kann man Sünde nur, wenn man darüber in persönlicher Betroffenheit redet. Wenn man zu Gott betet: Herr, sei mir Sünder gnädig. Wir wollen uns als Predigttext deshalb ein Stück aus Psalm 51 vornehmen. David, der bedeutendste König im alten Israel, hat dieses Gebet vor etwa 3000 Jahren verfasst.

1 EIN PSALM DAVIDS, VORZUSINGEN,
2 ALS DER PROPHET NATHAN ZU IHM KAM, NACHDEM ER ZU BATSEBA EINGEGANGEN WAR.
3 Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit.
4 Wasche mich rein von meiner Missetat, und reinige mich von meiner Sünde;
5 denn ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde ist immer vor mir.
6 An dir allein habe ich gesündigt und übel vor dir getan, auf dass du recht behaltest in deinen Worten und rein dastehst, wenn du richtest.
7 Siehe, ich bin als Sünder geboren, und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen.
8 Siehe, dir gefällt Wahrheit, die im Verborgenen liegt, und im Geheimen tust du mir Weisheit kund.
 9 Entsündige mich mit Ysop, dass ich rein werde; wasche mich, dass ich schneeweiß werde.
 10 Laß mich hören Freude und Wonne, dass die Gebeine fröhlich werden, die du zerschlagen hast.
 11 Verbirg dein Antlitz vor meinen Sünden, und tilge alle meine Missetat.
 12 Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist.
 13 Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir.
 14 Erfreue mich wieder mit deiner Hilfe, und mit einem willigen Geist rüste mich aus.

Hinter diesem Gebet steht eine Geschichte, wie sie sich in einer typischen Filmserie unserer Zeit abspielen könnte, aus der Welt der Reichen und Schönen. Zuerst wird die attraktive Bathseba von David schwanger, eine verheiratete Frau. Als das Kind auf die Welt kommt, ist einfach auszurechnen, dass es nicht von Bathsebas eigenem Mann sein kann. Denn der kämpfte im Krieg und war schon seit Monaten nicht mehr zu Hause gewesen. Es droht, dass alles herauskommt, und so plant König David einen gut getarnten Auftragsmord: Uria, der Ehemann Bathsebas, soll an vorderster Front allein seinen Gegnern überlassen werden. Er fällt im Kampf, Bathseba ist jetzt Witwe und steht David als Frau zur Verfügung.
David war schon lange ein gläubiger Mensch gewesen. Wie konnte er sich zu so etwas hinreißen lassen? Ein Jahr lang quält er sich mit seiner Gewissenslast. Die Freude ist aus seinem Leben gewichen, bis ins Körperliche hinein fühlt er seine Schuld: Gott hat seine "Gebeine zerschlagen", so betet er im Psalm. Er hat ihm keine Ruhe gelassen. Und jetzt muss David sagen: Meine Sünde ist immer vor mir, sie geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ob ich solche Erfahrungen auch kenne?
David wendet sich an den, der seine "Gebeine zerschlagen" hat: "Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte..." Er beginnt, indem er sein Problem beim Namen nennt: Tilge meine Sünden. Es ist das wichtigste Gebet, das ein Mensch beten kann: Herr, sei mir Sünder gnädig. Und es beginnt damit, dass ich aufhöre, meine Schuld zu erklären und zu rechtfertigen.
Ein Psychologe würde heute vielleicht - wenn David mit seinen Untaten vor einem deutschen Gericht stünde - einige gute Erklärungen finden. Davids hohe seelische Belastung, als Staatschef eines Landes im Krieg. Frühkindliche Prägungen. Vielleicht hat Bathseba ihn sogar gereizt, wer weiß? Schließlich ist er auch nur ein Mann. Und der Auftrag, Uria umbringen zu lassen: Der war kurzschlüssig, aus seiner Angst erklärbar. "Im Affekt", würden wir sagen. Alles in allem wenigstens "verminderte Schuldfähigkeit". Der arme David - ein Opfer der Umstände und seines Seelenlebens.
Vor einem menschlichen Gericht würde man damit vielleicht noch durchkommen. David weiß: Vor Gott zählt das alles nichts, sondern hier müssen die Dinge beim Namen genannt werden. Deshalb  erklärt er nicht herum, sondern er kapituliert bedingungslos vor Gott. Ihm bekennt er seine Sünden und gibt damit seinem Urteil Recht. Du, Herr, du hast recht, wenn du in deinen Geboten sagst: Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht töten. Ich will dir nicht ausweichen. "auf dass du recht behaltest in deinen Worten und rein dastehst wenn du richtest."
Nehmen wir das als persönliche Frage für uns mit: Wo bekenne ich meine Schuld, und zwar vor Gott? Und wo möchte ich lieber Erklärungen suchen, um mich damit selbst zu rechtfertigen? Es ist vermutlich keine Frage, auf die ich sofort eine Antwort geben kann, sondern über die ich erst in Ruhe nachdenken muss.

Indem David im Gebet vor Gott kapituliert, erkennt er desto tiefer, worin seine Sünde eigentlich besteht. Stellen wir eine kurze kriminalistische Untersuchung an, über den "Fall David". Wer war eigentlich das Opfer seiner Sünden? Zuerst Bathseba, die er in Verruf gebracht hat. Danach ihr Mann Uria, den er umbringen ließ. Auch das königliche Amt, dessen Autorität in Zweifel gezogen wurde. Denn wer vertraut einem König, für den scheinbar Recht und Gesetz nicht gelten? Und nicht zuletzt er selbst, der danach alle Freude in seinem Leben verloren hatte. Meistens ist es so: Wenn ich sündige, werden Menschen darunter leiden, Beziehungen geschädigt oder sogar zerbrechen. Und schließlich wird mein eigenes Leben durcheinander kommen.
Doch so sehr meine Sünde andere und mich selbst belastet: Das eigentliche Opfer meiner Sünden ist  Gott. Ihn verletze ich damit, und jede meiner Sünden ist wie ein gezielter Stich mitten in sein Herz. Ich greife den Schöpfer an, der mir mein Leben gegeben hat, und der jeden Tag für mich sorgt. Meine Beziehung zu ihm wird zerstört. Und schließlich bringt meine Sünde Jesus, den Sohn Gottes, ans Kreuz. "Der HERR warf unser aller Sünde auf ihn." (Jesaja 53,6) In einem Passionslied heißt es: "Was ist doch wohl die Ursach solcher Plagen? Ach, meine Sünden haben dich geschlagen; ich, mein Herr Jesu, habe dies verschuldet, was du erduldet." (Evangelisches Gesangbuch 81,3)
Obwohl David lange vor Christus und seinem Gang ans Kreuz gelebt hat, ahnt er etwas von der Tiefe seiner Sünde. Deshalb betet er hier im Psalm: "An dir allein habe ich gesündigt und übel vor dir getan." Das wichtigste aller Gebete - Herr, sei mir Sünder gnädig! - ist vor allem dafür da, meine Beziehung zu Gott wiederherzustellen. Dieses Gebet steht vor allen Versuchen, meine Sünde auch an den Menschen wiedergutzumachen, die ebenfalls ein Opfer waren.

Nachdem David seine Schuld vor Gott bekannt hat, betet er einen weiteren, höchst bemerkenswerten Satz: "Siehe, ich bin als Sünder geboren, und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen." Was bedeutet das? Es soll sicher nicht heißen: David ist das Kind eines Seitensprungs, und der König hat deshalb eine fragwürdige Herkunft. Vielmehr spricht David ein tiefes Geheimnis an, das alle Menschen gemeinsam haben. Es ist ein  Geheimnis, das so tief vielleicht erst wieder vom Apostel Paulus erklärt wurde (z.B. in Römer 3,9-20).
Die christliche Kirche hat dieses Geheimnis von Alters her "Erbsünde" genannt. Es ist so, als ob sich die Sünde auf geheimnisvolle Weise fortgepflanzt hat, als ob die Sünde irgendwo im menschlichen Erbgut verankert ist und von Generation zu Generation weitergegeben wird. Darüber könnte man lange darüber spekulieren und philosophieren. David tut das nicht, sondern er drückt eine persönliche Erfahrung aus, die schon manch anderer mit seinen Sünden gemacht hat. Das geschieht, wenn mir klar wird: Ich tue nicht nur Sünden. Sondern ich bin ein Sünder, durch und durch.
Es ist so ähnlich wie bei dem sprichwörtlichen Eisberg. Da ist auch das meiste unter Wasser, und nur die Spitze, ein Siebtel des Ganzen, ragt heraus und ist sichtbar. Meine persönliche Vermutung ist sogar: Ich bezweifle, dass wir auch nur ein Siebtel unserer sündigen Natur erkennen, ich glaube, es ist viel, viel weniger. Wir machen uns Illusionen über uns selbst, aber in Wirklichkeit sitzen wir alle mit David "in einem Boot". Mord und Ehebruch sind wahrlich keine Kleinigkeiten. Aber eine ganz andere Dimension hat es, wenn ich hin und wieder einen kleinen Einblick gewinne in die  Abgründe von Schmutz und Dunkelheit, die in mir selbst stecken. Auch dann, wenn ich schon lange Christ bin!

Diese Entdeckung gehört zu den Haupterkenntnissen der Reformation, und sie gehört bis heute zu den Lehren, in denen sich die evangelischen Kirchen von der katholischen unterscheiden. Im Augsburgischen Bekenntnis von 1530 heißt es: "Weiter wird bei uns gelehrt, daß nach Adams Fall alle natürlich geborenen Menschen in Sünde empfangen und geboren werden, das heißt, daß sie alle von Mutterleib an voll böser Lust und Neigung sind und von Natur keine wahre Gottesfurcht, keinen wahren Glauben an Gott haben können..." (Evangelisches Gesangbuch, Nr. 857). Das Augsburgische Bekenntnis gehört zu den Grundlagen auch unserer Evangelischen Kirche von Westfalen, und wir Pfarrer werden bei unserer Ordination darauf verpflichtet. Trotzdem scheinen manche Evangelischen mit dem Thema "Erbsünde" ihre Schwierigkeiten zu haben, und verschweigen es lieber. So ist z.B. in unserem Gesangbuch bei den Wechselpsalmen zwar unser Predigttext, der 51. Psalm, abgedruckt (Evangelisches Gesangbuch 727). Aber der Vers: "Siehe, ich bin als Sünder geboren...". Der wird einfach weggelassen und wir bekommen nur eine "zensierte Fassung" zu lesen.
Ja, wie ist das nun? Muss diese düstere Lehre heute wirklich noch ein Thema sein? Schreckt so etwas nicht die Menschen davon ab, in die Kirche zu kommen? Sollte man nicht denken, dass irgendwo tief unten in uns noch ein "guter Kern" steckt? Und ist es nicht unsere Aufgabe als Kirche, diesen guten Kern in jedem Menschen zu entdecken und zu fördern? Ja, so könnte man tatsächlich fragen. So könnte man fragen, wenn - wenn es nur moralische Verfehlungen wären, die mich belasten. Denn die könnte ich vielleicht noch mit Tatkraft und Disziplin bekämpfen. "Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen." So drückt Goethe seine Hoffnung aus im zweiten Teil seines "Faust" (Faust II, 5. Akt, ab Vers 11936) . Wenn vor Gott nur das zählte, was man von außen sehen kann... Aber bei diesem dunklen Teil von mir, unter der Oberfläche, da kann nur einer helfen: Unser Herr, der auch diesen Abgrund der Sünde auf sich genommen und ans Kreuz getragen hat, meine "Erbsünde". Vielleicht verstehen wir jetzt, warum Jesus seinen Christen diese Bitte ins Vaterunser geschrieben hat: "Und vergib uns unsere Schuld". Wir brauchen dieses Gebet, wirklich täglich, damit unsere Beziehung zu Gott bestehen kann. Wir brauchen es alle, und zwar nicht nur solche, die noch gar nicht den Weg zu Gott gefunden haben, sondern auch und gerade wir als Christen.

Nun haben wir über das Wesen der Sünde und über die Vergebung der Sünden nachgedacht. Eine Frage bleibt noch: Was hat die Vergebung meiner Sünden mit dem Blut Christi zu tun? Was bedeutet es, dass Jesus gestorben ist - für meine Sünden? Ich möchte in diesem Zusammenhang einen Vers unseres Psalms betrachten, der auf Anhieb gar nicht so leicht verständlich ist (und der, nebenbei bemerkt, in unserem Gesangbuch bei den Wechselpsalmen ebenfalls "zensiert" wurde): "Entsündige mich mit Ysop, dass ich rein werde."
Mit Ysop ist nicht die Heil- und Gewürzpflanze gemeint, die auch bei uns in Europa verbreitet ist, sondern der syrische Oregano. Ein Jude zur Zeit Davids kannte diese Art Ysop und wurde dabei an eine Begebenheit erinnert, die für die Geschichte seines Volkes von größter Bedeutung war: Der Auszug aus Ägypten und die letzte der zehn Plagen, die Mose dem Pharao angekündigt hatte.
Es war die Nacht, als der Herr die Häuser in Ägypten heimsuchte und alle Erstgeborenen tötete. Die Israeliten sollten vorher ein Lamm schlachten. Dann sollten sie einen Ysopzweig nehmen, ihn in das Blut des geschlachteten Lammes tauchen, und damit die Oberschwelle und die beiden Pfosten an ihren Türen bestreichen. (2. Mose 12:22) "Dann aber soll das Blut euer Zeichen sein an den Häusern, in denen ihr seid: Wo ich das Blut sehe, will ich an euch vorübergehen und die Plage soll euch nicht widerfahren, die das Verderben bringt, wenn ich Ägyptenland schlage." (2. Mose 12:13) Und so geschah es: Anders als beim Pharao und seinen Ägyptern blieben ihre Erstgeborenen am Leben. Gott ging an ihren Häusern aber nicht vorüber, weil sie gegenüber den Ägyptern die besseren Menschen waren. Vielleicht erinnern wir uns: Mose selbst hatte einen Mord auf dem Gewissen, denn er hatte einen der ägyptischen Sklavenaufseher erschlagen (2. Mose 2:12ff). Nein, Gott ging vorüber, weil das Volk Israel auf seine Zusage vertraute: Das Blut des Lammes soll euch vor meinem Strafgericht schützen. Später gab es in Israel Opfervorschriften, die eng mit der Reinigung vor Gott und der Vergebung der Sünden zusammenhingen: Der Priester tauchte einen Ysopzweig in das Blut des Opfertieres, und besprengte den, der gereinigt werden sollte. (3. Mose 14)
"Entsündige mich mit Ysop, dass ich rein werde.", so betet David. Offensichtlich ist ihm klar, dass auch er nur so seine Schuld loswerden kann, nur so vor dem Zorn Gottes geschützt werden kann. Wenn er durch das Blut eines Opfertieres gereinigt wird. Wir sind keine Juden, und wir leben in der Zeit nach Christus. Deshalb können wir solche Riten und Gebräuche nicht einfach nachmachen. Aber die Reinigung mit dem blutgetränkten Ysopzweig - sie soll uns erinnern an das Blut Christi, das er am Kreuz für uns vergossen hat. Der Apostel Johannes schreibt dazu in seinem ersten Brief: "Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit." (1. Johannes 1:9).
Ja, die Vergebung meiner Sünden braucht eine gute Grundlage: Gottes Sohn, der sein Blut für mich vergossen hat. "Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!" (Johannes 1:29) So sagt Johannes der Täufer über Jesus. Und vergleicht Jesus dabei mit einem Opfertier. Und wenn Gott mit mir über meine Sünde redet, sie aufdeckt. Wenn er mir meine Ausreden aus der Hand nimmt, und mir meine Abgründe zeigt. Dann weiß ich dennoch: Jesus ist auch für meine Sünden gestorben. Sein Blut kann auch mich reinigen, egal wie groß die Schuld ist, die ich auf mich geladen habe. Zu ihm will ich kommen, so wie ich bin: Als Sünder. Aber voller Zuversicht, dass er mich von aller meiner Sünde reinigen kann - und wird. Amen.

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