Klagen und Vertrauen, oder: Das Gebet als Blickwechsel - Predigt über Psalm 57


Psalm 57:1 EIN GÜLDENES KLEINOD DAVIDS, VORZUSINGEN, NACH DER WEISE »VERTILGE NICHT«, ALS ER VOR SAUL IN DIE HÖHLE FLOH. 2 Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig! Denn auf dich traut meine Seele, und unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht, bis das Unglück vorübergehe. 3 Ich rufe zu Gott, dem Allerhöchsten, zu Gott, der meine Sache zum guten Ende führt. 4 Er sende vom Himmel und helfe mir von der Schmähung dessen, der mir nachstellt. SELA. Gott sende seine Güte und Treue. 5 Ich liege mitten unter Löwen; verzehrende Flammen sind die Menschen, ihre Zähne sind Spieße und Pfeile und ihre Zungen scharfe Schwerter.
6 ERHEBE DICH, GOTT, ÜBER DEN HIMMEL UND DEINE HERRLICHKEIT ÜBER ALLE WELT! 7 Sie haben meinen Schritten ein Netz gestellt und meine Seele gebeugt; sie haben vor mir eine Grube gegraben - und fallen doch selbst hinein. SELA. 8 Mein Herz ist bereit, Gott, mein Herz ist bereit, daß ich singe und lobe. 9 Wach auf, meine Seele, wach auf, Psalter und Harfe, ich will das Morgenrot wecken! 10 Herr, ich will dir danken unter den Völkern, ich will dir lobsingen unter den Leuten. 11 Denn deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen.
12 ERHEBE DICH, GOTT, ÜBER DEN HIMMEL UND DEINE HERRLICHKEIT ÜBER ALLE WELT!

Liebe Geschwister,
zu einer gesunden Beziehung zu Gott gehört beides: Dass ich ihm alle meine Nöte klagen kann. dass ich ihn um Hilfe bitte in Schwierigkeiten. Dass ihn lobe - mitten in der Not, dass ich von mir und meiner Lage wegschaue. Und aufschaue auf ihn.

1. Ich darf ihm klagen und darf ihn um Hilfe bitten

Vielleicht muss man sich die Lage von David einmal richtig ausmalen. Damit man ihn versteht. Auf der Flucht vor Saul ist er. Und wir wissen ja, dass Saul versucht hat, David zu töten. Nun hat er sich in eine Höhle retten können. Vermutlich ist es gegen Abend, vielleicht wird es schon dunkel: Er "liegt", eigentlich heißt es - er legt sich schlafen. "Mitten unter Löwen" - ich glaube, das muss man nicht allzu dichterisch verstehen. In Israel gab es wirklich Löwen in freier Wildbahn - und vielleicht konnte er sie sehen, wie sie vor dem Höhleneingang hin- und her streifen. Und doch sind die Menschen, die ihm nachstellen, eine noch größere Gefahr: "verzehrende Flammen" sind sie. "Sie haben meinen Schritten ein Netz gestellt und meine Seele gebeugt" - richtig "niedergedrückt" ist David.
David - ein Mensch in Lebensgefahr, der sich gerade noch so retten konnte. David - ein Mensch, der schon lange eine persönliche Beziehung zu seinem Herrn hat. Er weiß: ich bin nicht allein in der Höhle. Und ich darf ihm alles sagen. "Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig." Wer kann mir jetzt noch helfen außer dir? "Er sende vom Himmel und helfe mir von der Schmähung dessen, der mir nachstellt." David breitet all das vor seinem Herrn aus, was ihm Not macht. Und bittet ihn um Hilfe: "Denn auf dich traut meine Seele." Jesus, unser Herr, hat ein offenes Ohr für solche Gebete. Und manche, die zu ihm gekommen sind. Die konnten nicht mehr, als zu ihm rufen: Herr, erbarme dich. Das dürfen wir. Da brauchen wir uns nicht zu schämen.
Und doch gibt es immer wieder Christen, die wollen mit Gott "Indianer spielen". Wie komme ich nun darauf? Als Junge liebte ich die Bücher von Karl May und die passenden Wildwest-Filme. Nun, wer sich einmal die alten Winnetou-Filme angeschaut hat oder entsprechende Romane gelesen hat, der weiß: "Ein echter Indianer kennt keinen Schmerz." Zumindest wird das behauptet. Selbst am Marterpfahl verzieht der tapfere Krieger keine Miene. Welch eine Schande wäre das auch! Manche Christen versuchen, solche tapferen Krieger zu sein. Ein wirklich geistlicher Christ klagt nicht. Sondern auch in der größten Not, in Krankheit, in Trauer, in Bedrohung: Immer ein Loblied auf den Lippen. Fürchtet mancher, vor Gott in Schande dazustehen? Und nicht als "tapferer geistlicher Krieger"? Wer weiß.....
Nicht nur David. Auch unser Herr hat in seiner Not geklagt. Und wir lesen, wie Jesus vor Angst gezittert hat, als es auf den Kreuzestod zuging. Wie furchtbar ihm zumute war: "Meine Seele ist betrübt bis an den Tod." (Matthäus 26:28) Auf solche Stellen bezieht sich die christliche Kirche von Alters her, wenn sie bekennt: Jesus ist ein wahrer Mensch. Er ist von echtem Fleisch und Blut, "versucht worden in ... allem wie wir, doch ohne Sünde." (Hebräer 4:15)
Deshalb: wenn ich Gott klage in meiner Not. Ihm sage: ohne dich komme ich jetzt nicht weiter. Ich brauche dich. Dann gehört das zu meinem Menschsein dazu. So wie bei Jesus auch. Wenn ich richtig weiß, waren die alten Indianer gewöhnlich keine Christen. Ob sie deshalb keinen Schmerz kannten, die tapferen Krieger?
Wenn wir glauben - dann dürfen wir die Welt mit Gottes Augen sehen. Dann dürfen wir wissen: Ich darf meinem Herrn alles klagen. Darf meine Not ausbreiten. Egal, was es ist. Darf einfach nur beten: Herr, erbarme dich. Ja, vor ihm darf ich ein schwacher Mensch sein. Das ist unser Vorrecht. Ein Vorrecht - wie es unser Herr Jesus auch gebraucht hat. "Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig!"

2. Ich kann aufschauen zu ihm - und ihn loben mitten in der Not

Es scheint so, als wäre mit David in der Nacht eine Verwandlung vor sich gegangen. Ja - ich vermute, dass der zweite Teil des Psalms sein Gebet am Morgen wiedergibt. Nachdem er am Abend all seine Not ausgebreitet hatte. Kommt jetzt das: "Wach auf, Psalter und Harfe, ich will das Morgenrot wecken!"
Ein alter jüdischer Ausleger (Talmud, B.Berakhot 3b) versuchte, sich David in der Höhle vorzustellen, und er schreibt: "Gewöhnlich hing eine Zither über Davids Bett; und als die Mitte der Nacht herankam, strich der Nordwind über die Saiten, so dass sie von selbst zu klingen anfingen; und er (David) stand auf, und vertiefte sich in die Torah - die Bibel -, bis der Sonnenaufgang heranrückte."
Das ist vielleicht nicht ganz wissenschaftlich gesichert - aber auch keine ganz abwegige Vorstellung. Wir wissen, wie sehr David das Wort Gottes schätzte. Wir können davon ausgehen, dass er große Teile, vielleicht ganze Bücher des Alten Testaments auswendig kannte, so wie das damals üblich war. All dies ging ihm in dieser Nacht in der Höhle durch den Kopf. Und wir können uns vorstellen, wie er über all den Verheißungen. All den Versprechen von Gottes Treue und Zuwendung. Wie er dann gegen Morgen ein Lied sang: "Wach auf, meine Seele, wach auf, Psalter und Harfe, ich will das Morgenrot wecken! ... Denn deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen."
Ja, es ist wichtig. Es ist entscheidend wichtig. dass nach aller Klage. dass nach allen Bitten. dass dann ein Blickwechsel stattfindet. Ein Blickwechsel weg von meiner Lebenslage. Weg von Not, Trauer und Gefahr. Hin zu ihm. Zu ihm, "dem Allerhöchsten, zu Gott, der meine Sache zum guten Ende führt."
Denn - auch das gibt es ja, leider: dass Christen ihre Nöte und Probleme vor sich her tragen wie auf einem Tablett. Alle sollen wissen, wie schlecht es mir geht. Am liebsten würde ich den ganzen Tag über meine versammelten Krankheiten und Zipperlein reden, wenn mir nur jemand zuhören würde. Doch - damit ist wohl weder mir selbst noch meinen Mitmenschen geholfen.
Ein Blickwechsel ist nötig. Jedoch, Vorsicht: Dieser Blickwechsel ist in erster Linie ein Schritt des Glaubens - nicht der unmittelbaren Erfahrung. Nicht des Erlebens. Als David anfängt zu singen - da kam kein Ritter in strahlender Rüstung in seine Höhle. Verkündete ihm: "Von nun an wirst du keine Probleme mehr mit Saul haben." Leider nein! Wir wissen, welche Kämpfe es noch gekostet hat. Nicht nur Sorgen, sondern auch Lebensgefahr. Bis die Bedrohung für David vorbei war. Kein Schritt der Erfahrung, des Gefühls. Kein Zauberstab, der auf einmal alle Probleme weg nimmt. Sondern ein Schritt des Glaubens. Du führst meine Sache zum guten Ende. Sie haben vor mir eine Grube gegraben - und fallen doch selbst hinein. Deine Güte und deine Wahrheit - unfassbar groß und weit sind sie. Ich sehe sie noch nicht. Aber dein Wort spricht davon. Und deshalb bete ich: "Erhebe dich, Gott, über den Himmel, und deine Herrlichkeit über alle Welt."
Martin Luther hatte selbst oft mit Anfechtungen und Glaubenszweifeln zu kämpfen. Einmal schrieb er an einen Freund, der sich immer viele Gedanken machte und oft traurig war (an Martin Weller, 7. Okt. 1534, Insel-Ausgabe Bd VI, 162f) in seiner deftigen Ausdrucksweise: "Darum, wenn Ihr traurig seid, und es will überhand nehmen, so sprecht: "Auf! Ich muß meinem Herrn Christus ein Lied machen ...., denn die Schrift lehrt mich, er höre gern fröhlichen Gesang und Saitenspiel."  .....   Kommt der Teufel und gibt Euch Eure Sorgen oder Gedanken ein, so wehrt Euch frisch und sprecht: "Aus, Teufel; ich muß jetzt meinem Herrn Christus singen und spielen." So müßt Ihr Euch wahrlich ihm (dem Teufel) widersetzen lernen und nicht gestatten, dass er Euch Gedanken macht. Denn wenn ihr einen einlaßt und ihm zuhört, so treibt er Euch wohl zehn Gedanken hintennach, bis er Euch übermannt hat. Darum nichts besser, denn flugs im ersten auf die Schnauze geschlagen!"
Da ist wahrlich etwas dran. Nicht immer gelingt der Blickwechsel so schnell wie bei David - gleichsam über Nacht. Aber es lohnt sich doch, es zu versuchen. Mich immer wieder zu entschließen und zu sagen: Herr, ich will dir danken unter den Völkern. Ich will. Nicht, weil ich fühle und erfahre. Sondern weil ich deinem Wort glaube. Und wenn ich zweifle: Hat er mir vergeben? Bin ich noch sein Kind? Trotz allem? Warum nicht z.B. gesungen oder gebetet: "Stern, auf den ich schaue" (Gesangbuch der EmK Nr. 374) Oder wenn ich nicht weiter weiß in einer Not. Warum nicht gesungen oder gebetet: "Harre meine Seele, harre des Herrn! Alles ihm befehle, hilft er doch so gern." (Gesangbuch der EmK Nr. 373) Oder ein anderes Lied. Oder einen Psalm.
Ja, liebe Geschwister. Lasst uns ihm alle Sorgen und Nöte klagen. Wirklich "unzensiert". Ohne falsche Scham und Tapferkeit. Und dann. Dann wollen wir uns entschließen. Dann lasst uns darum kämpfen. dass wir diesen Blickwechsel vollziehen. Denn er ist treu. Denn er hat die ganze Welt in der Hand. Auch mich. "Erhebe dich Gott, über den Himmel. Und deine Herrlichkeit über alle Welt!"       Amen.

zurück zur Übersicht